«Left Foot – Right Foot»: Die Schweizer Filmpreisüberraschung

Germinal Roaux erfindet eine Welt, die niemand erfinden müsste. Es gibt sie bereits, bei uns ums Eck. Beängstigend nahe bringt er uns diese Welt erst durch seine Art, sie zu erzählen. Grossartig. Vinz ist kein Aussteiger. Er will bloss nicht einsteigen. Sein Job ist dumpfe Maloche. Seine Freundin Marie liebt er, weil es dann wenigstens […]

«Left Foot – Right Foot»: Schwarz-weiss, aber bestechend bunt.

Germinal Roaux erfindet eine Welt, die niemand erfinden müsste. Es gibt sie bereits, bei uns ums Eck. Beängstigend nahe bringt er uns diese Welt erst durch seine Art, sie zu erzählen. Grossartig.

Vinz ist kein Aussteiger. Er will bloss nicht einsteigen. Sein Job ist dumpfe Maloche. Seine Freundin Marie liebt er, weil es dann wenigstens noch etwas gibt, was er an sich mag. Nur für seinen Bruder Mika, den Autisten, gibt er alles.

Seine Freundin Marie muss, wohin sie auch schaut, einsehen, dass sie eine Verliererin ist: Ihre Mutter lebt am sozialen Abgrund. Ihr Freund Vinz ist ein Chiller. Ihre Wohngegend liegt am Rand. Sogar ihre hippe Freundin verstärkt in ihr nur das Gefühl, ausgestossen zu sein.

Beide leben wie in einer alten Ehe: Vinz hängt gerne mit den Kumpels rum, Marie mit der leichtlebigen Freundin. Als die Dinge aus dem Ruder laufen, ist es längst zu spät. Selbst wenn sie sich jetzt noch eingestehen könnten, dass sie sich lieben, läge das junge Glück des Paars in Trümmern.

Der eigentliche Filmpreisgewinner

Hier gibt es eine der grössten Überraschungen des Schweizer Films der letzten Jahre zu bewundern: Denis Jutzeler hat mit der Kamera für und mit dem Regisseur Roaux, der selber Fotograf ist, einen bestechend farbigen Schwarz-Weiss-Kosmos eingefangen. Dimitri Stapfer wagt sich mit der Darstellung des behinderten Bruders in ein diffiziles Feld und hat zu Recht beim Schweizer Filmpreis die Preise für die beste Nebenrolle gewonnen, die doch eigentlich eine Hauptrolle ist. Auch das beste Schweizer Kostümdesign von Françoise Nicolet geht so niveauvoll in den Look des Films über, dass es uns fast nicht auffällt – unter all den hervorragenden Details.

Zusammen hat das junge Team bewiesen, dass neben Heimatfilmen wie «Der Goali bin ig» auch komplexere narrative Filme auffallen können: «Left Foot – Right Foot» hat im Ausland Furore gemacht, weil er mehr trifft, als nur einen Schweizer Nerv. Er trifft den Nerv der Zeit.

Germinal: Nomen est Omen. Der Regisseur seziert die soziale Misère

Germinal Rouaux ist einer, dem aufgefallen ist, das Jugendarbeitslosenraten in Europa nicht nur den Geldbeutel des Staates belasten, sondern auch die soziale Tragfähigkeit einer Gesellschaft. Vinz und Marie sind fast noch Kinder. Sie leben in Lausanne. Am Rand. Treten vom linken auf den rechten Fuss. An einem Unort, der gar nicht wo weit weg von Spanien liegt, wo Vinzens Mutter herkommt, und die Jugend zu 60 Prozent arbeitslos ist.

Rouaux mag vor dem Elend die Augen nicht schliessen. Wenn er auch seine Sozialballade am Rande des Clichés erzählt: wie er sie erzählt hat Klasse. Schwarz-weiss malt er seine Bilder, und das ist nur eine der klugen Entscheidungen, die er getroffen hat, um den Stil seines Films zu finden.

Der Wohlstand geht an ihnen vorbei – nicht aber der Anstand

Wie in einem flüssigen Himmel fängt der Film an, mit einem Vogelschwarm, mitten in einem Lachen, das in engen, hellen Räumen stirbt. Doch wir verlieren die Vögel im Laufe des Filmes nicht aus den Augen. Mittendrin wird gar ein verirrter Vogel geborgen und in Freiheit entlassen. Ach ja: Gevögelt wird auch. Ansonsten sind wir in kühlen Räumen, an verlorenen, kalten Unorten.

Germinal Rouaux bleibt seinem Vornamen treu. Ganz wie Emile Zola in «Germinal» lässt er uns in das soziale Elend schauen. Ganz wie Zola seinen Namensvetter lässt er die Figuren ohnmächtig scheitern. Er zeigt nicht auf die finsteren Mächte. Die wirklich Schuldigen müssen in diesem Film nicht Gesicht bekennen. Maries Mutter setzt Rouaux überhaupt nur von hinten ins Bild.

Gleich mehrfach erzählt: Im Bild, im Wort, im Sound

Dabei hat Roaux ein gutes Händchen für narrative Bildfolgen. Da lässt sich anfangs die Waschmaschine nur mit einer Zange bedienen. Also ist es nur logisch, wenn Marie, nachdem sie aus einem Schicki-Micki-Laden verwiesen wurde, weil sie ja klauen könnte, im nächsten Elektrogeschäft einen Waschmaschinendrehknopf mopst, den sie schliesslich bei Mutters Maschine – unbemerkt – einsetzt.

Erst malt sich Marie die Fingernägel, um neben ihrer Freundin nicht abzuschmieren, dann wird sie von deren luschem Freund für die hübschen Nägel gelobt, ehe sie, nach der ersten Vergewaltigung, den restlichen Lack wegkratzen will, der ja eigentlich schon längst ab ist.

Rouaux ist ebenso erbarmungslos als Erzähler, wie er liebevoll sein kann: Wie umsichtig er Vinz seinem Bruder die Zähne putzen lässt, so stilsicher lässt Rouaux Marie schliesslich in den Abgrund fallen. Er scheucht hierfür noch einmal ein paar Vogelschwärme auf, um uns den Boden unter den Füssen verlieren zu lassen. Das hinterlässt ein maues Gefühl im Magen. Wie es uns Zola auch des Öfteren beschert hat.

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