Im Burgund tauchen auf Schritt und Tritt Zeugen des früheren Reichtums auf, und eigentümliche Balladen bringen einen plötzlich aus diesem Schritt und Tritt.
Die Wirtsleute, die Menschen in den Läden, Frauen und Männer auf der Strasse – sie wirken betulicher, gelassener als andernorts, wo ich durchgekommen bin in Frankreich. Auch so ordentlich und unaufgeregt – die Höfe sind aufgeräumter als anderswo, die Dörfer gepflegter, die Strassenborde schon alle gemäht. Alle sind sehr geschäftig, aber betulich beschäftigt: Nichts, so scheint es, kann die Leute aus der Ruhe bringen. Sie gehen ihren Arbeiten nach, als ob sie Stress gar nicht kennen würden.
Überall sind Erinnerungen an früheren Reichtum sichtbar. Erstmals in Doncy, am westlichen Rand des Burgunds, fiel uns eine alte romanische Kirche, ziemlich zerfallen allerdings, mit sehr altem Portalbogen, alten Friesen aus dem zwölften Jahrhundert auf. Und das Bild wiederholt sich: Hinter einer Wegbiegung, einer Kuppe erhebt sich plötzlich in einem auf der Karte kaum markierten Dorf ein gedrungener Kirchturm, er streckt seine stumpfe Spitze in den Himmerl – eine Kirche aus sehr frühen Jahrhunderten, aus dem späten Mittelalter. Neben den Kirchen sehr alte Gehöfte, manchmal an Klöster erinnernd, manchmal auch nur ans stattliche Haus eines lebenslustigen Priesters oder dann kleine burg- und schlossähnliche Gebäude. Nicht mehr aus Kalksandstein, sondern gemörtelte Häuser, Bruchstein und Mörtel. Keine Schieferdächer mehr, sondern Ziegel.
Die Dörfer wirken nicht sehr begehrt wie in der Loire-Gegend, wo zwar auch viele leer stehen, aber doch häufig von Städtern als Wochenendhaus genutzt werden. Hier wären noch viele feil. Ans Mittelalter erinnernd, stehen sie da und brüten in der Sonne, manchmal verlassen eben, dann wieder von farbigen Blumengärten umgeben. Die Landschaft hier hat einmal geblüht, zur hohen Zeit der Burgunderkönige, hier muss Reichtum gewesen sein – vielleicht ist er es immer noch, man sieht es den Dörfern aber nicht mehr an. Nur noch: dass sie einmal sehr hablich gewesen sein mussten.
Aber auch ein gewisser Zerfall ist spürbar. Und sei es nur, wenn man in Varcy den Bahnhof sucht und ausser dem Hotel de la Gare und einem Einschnitt in der Landschaft, wo die Linie durchgegangen sein muss, nichts mehr sieht. Wir ziehen in Varcy los, über diese sanften Hügel, an Weizenfeldern vorbei mit ihren schmückenden Sommerblumen an den Rändern, über Weiden, auf denen uns weisse Kühe nachglotzen. Sylvia hat grossen Spass an diesen Viechern. Der Mais steht schon hoch hier, die Sonnenblumenfelder ebenfalls. Die Blumenteller werden in einem Monat gelb in die Landschaft leuchten.
Das Kreuz mit dem öffentlichen Verkehr
In Ouagne mag Sylvia nicht mehr. Wir schleppen uns ins Dorf, sie stoppt nach Varcy zurüvk und ich ziehe weiter, erst durch dichten Wald, dann wieder über Weiden, an Feldern vorbei. Feldwege sind meist verwildert, kaum zu finden oder sie hören mitten in der Landschaft auf. Werden sie für landwirtschaftliche Fahrzeuge nicht mehr gebraucht, wuchert schnell alles mögliche an Gräsern und Sträuchern. In dieser Gegend benutzt man – wie Sylvia auf dem Weg zurück nach Varcy erlebt – auch keine öffentlichen Verkehrsmittel in abgelegenen Gebiete. Man fährt Auto, man bewegt sich individuell fort. Wenn alle Auto fahren, braucht es auch keine Busse. Und hat sich Sylvia aufs gute alte Autostoppen besonnen.
Ich spaziere mit Gedanken über die Wanderlust der Franzosen und ihr Verhältnis zum öffentlichen Verkehr an Saligny vorbei und bei einem Kanal taucht ein Schloss auf, Château Cuncy. Etwas bedrohlich ragen seine Zinnen aus den Bäumen. Muss dort durch, um den Kanal zu überqueren und nach Dornecy zu kommen. Eine Tafel fällt mir in die Augen mit der «Ballade von Cuncy». In der Ballade sinniert ein Schreinermeister über das schöne Schloss Cuncy, wohin er so viele Möbel geliefert hat. Er schlendert daran vorbei, findet einen Vorwand, um einzutreten und um seine früher gelieferten Möbel etwas nachzubessern. Er sieht, wie sie unverwechselbar aus seiner Hand geschnitten sind. Kinder springen herum und plötzlich vermischen sich die Bilder von Möbeln und Kindern. Aus seiner Hand geschreinerte Möbel werden zu Kindern, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten sind. Und er lobpreist des Mannes Schaffenskraft, die Kraft in Händen und Lenden.
«Allez. les Bleus»
Eine seltsame Ballade natürlich, aber sie lässt einen schmunzeln auf dem verbotenen Weg durch die Anlagen von Cuncy, wo ich über spitze Zäune klettern muss. Sehr weit ist es dann nicht mehr bis Dornecy, wo mich Sylvia abholt. Wir fahren zurück nach Clamecy, wahrscheinlich einem früheren Zentrum des Burgunds mit einer ausnehmend schönen frühgotischen Kirche, die im Scheinwerfer- aber auch im Mondlicht dieses längsten Tages des Jahres ihre fein gearbeiteten und gehauenen Figuren, Figürchen und Ornament spielen lässt. Wir möchten ein Glas Wein trinken im Bistro auf dem Platz. Der Kellner weist uns schnöde ab, will Feierabend machen. Das ärgert mich und ich singe: «Allez, les Bleus.» Das allerdings kommt nach dem frühzeitigen Ausscheiden Frankrreichs aus dem WM-Turnier nicht gut. Es gibt in diesem Bistro keinen Wein. Wir müssen ein anderes suchen.
(Clamecy, 21. Juni 2002)