Seit Sommer 2008 amtiert Urs Lehmann als Präsident von Swiss-Ski. Der 47-jährige Aargauer erhofft sich kommende Woche möglichst schnell einen Schweizer Medaillengewinn.
Lehmann, 1993 in Morioka Abfahrts-Weltmeister geworden, möchte keinesfalls die Situation erleben, dass der WM-Gastgeber nach den in der ersten Woche stattfindenden Speed-Wettbewerben auf eine Top-3-Platzierung wartet.
Urs Lehmann, die WM beginnt in wenigen Tagen. Es sei angerichtet, haben Sie in den letzten Wochen immer wieder gesagt. Was meinen Sie damit?
«Auf der einen Seite ist da der Organisator, der parat ist. In St. Moritz wurde über Jahre hinweg intensiv auf diese WM hingearbeitet, zunächst für die Kandidatur, danach für die Titelkämpfe. Die St. Moritzer haben gemacht, was gemacht werden musste.»
Kann man dies auch bei Swiss-Ski sagen?
«Auch bei uns wurde das Bestmögliche getan. Bei den Frauen sind wir absolut bereit.»
Und bei den Männern?
«Da siehts im Speed-Bereich auch nicht schlecht aus. Darum sage ich: Es ist angerichtet. Jetzt kommt das Essen.»
Wie sieht denn das Drehbuch des Swiss-Ski-Präsidenten für die kommenden zwei Wochen aus?
«Eigentlich wie immer an Grossanlässen: Es gilt, so schnell wie möglich eine Medaille zu gewinnen, um eine Dynamik auslösen zu können. Da stufe ich es als sehr vorteilhaft für uns ein, dass zunächst die zwei Super-G ausgetragen werden. Wenn es da wider Erwarten nicht klappen sollte, dann hoffentlich in der folgenden Kombination der Frauen. Oder dann halt in den Abfahrten.»
Das Weltcup-Finale im letzten März lief aus Schweizer Sicht mit je drei Siegen und Podestplätzen höchst erfreulich. Sind ähnliche Leistungen wirklich auch in den nächsten Tagen möglich?
«Das Weltcup-Finale war der perfekte Prolog in unserem WM-Drehbuch. Bin ich der Meinung, dass das wieder möglich ist? Ja, eine Athletin wie Lara Gut kann das wieder zeigen. Und beispielsweise Wendy Holdener war letztes Jahr beim Finale gar nicht in den ersten drei klassiert. Auch Beat Feuz, der auf der Corviglia Abfahrt und Super-G gewann, traue ich Gleiches wieder zu. Er ist sicher unsere grösste Hoffnung bei den Männern, aber auch Carlo Janka und Titelverteidiger Patrick Küng sehe ich in dieser Rolle. Und im Teamwettbewerb setze ich auf unser Super-Duo Wendy und Reto (Schmidiger).»
Im Weltcup klappte in diesem Winter nicht immer alles nach Wunsch. Für Sie also kein Grund zur Beunruhigung?
«Ich sagte, es sollte wieder möglich sein. Aber klar, es kann auch in die Hosen gehen. In neun von elf Rennen haben wir Medaillenchancen. Das Männer-Team steht halt seit jeher mehr im Fokus. Doch gerade bei den Frauen ist der Stand erfreulich. Da haben wir mit Lara Gut und Wendy Holdener zwei Fahnenträgerinnen, die sehr oft auf dem Podest standen oder sogar siegten. Dahinter gibt es einige junge Fahrerinnen, die teils für erfreuliche Resultate sorgten in diesem Winter. Das macht mir extrem viel Spass. Gerade auch, wenn ich einer Athletin wie Mélanie Meillard zusehe, die eine ganz erfrischende und unbekümmerte Fahrweise hat. Hoffentlich behält sie diese noch lange.»
Aber die Männer…
«Ja, hier haben wir eine Herausforderung. Den Speed-Bereich – mit sehr wenigen Rennen in dieser Saison – habe ich erwähnt. Gefreut hat mich aber, wie unsere Athleten in der Kombination in Wengen aufgetreten sind. Auch im Slalom sehe ich vielversprechende Talente wie Daniel Yule und Luca Aerni. Aber klar, der Schritt aufs Podium fehlte bis jetzt noch.»
Vom Riesenslalom war noch nicht die Rede.
«Grundsätzlich ziehen wir vor einer WM keine Bilanz. Wir wissen, dass wir noch nicht dort sind, aber der Plan stimmt. Im Riesenslalom müssen wir eindeutig mehr investieren. Aber manchmal geht es im Sport, der ja auch von Überraschungsmomenten lebt, sehr schnell. Ich erinnere an Niels Hintermanns Kombinationssieg in Wengen. Warum also soll nicht ein anderer junger Fahrer wie Loïc Meillard im Riesenslalom für eine Überraschung sorgen?»
Sind denn die Schweizer Fahrerinnen und Fahrer bereit?
«Ja! Sie haben die Offenheit und den Willen, zum weltbesten Fahrer werden zu wollen – und das mit jeder Konsequenz. Das heisst, bereit zu sein, die Extra-Meile zu gehen.»
Ein von Ihnen seit langem und immer wieder benutztes Wort ist die Komfortzone. Haben die Schweizer Fahrerinnen und Fahrer diese Zone im Hinblick auf St. Moritz verlassen?
«Wir haben alles getan, dass sie dies mussten. Bei einigen ist es gelungen, bei anderen nicht. Aber nicht, dass man mich falsch versteht. Viele trainieren gut und auch sehr hart. Doch wenn ich gewisse Ausnahmeathleten sehe, dann machen diese eben nochmals mehr und trainieren konsequenter. Unsere Frauen haben das seit zwei Jahren auch verinnerlicht.»
Sehen Sie brach liegendes Potenzial?
«Ja, wir haben Luft nach oben. Es kommt nicht von ungefähr, dass ein Marcel Hirscher so oft gewinnt, von uns aber schon lange kein Fahrer mehr überhaupt auf einem Podium gewesen ist. Wir haben gute Athleten, gute Trainer, und auch die Infrastruktur ist gut. Aber irgendeinmal müssen wir – oder eher: die Athleten – das auch ausnützen. Bei den Männern sind wir in der Nationenwertung nicht in den ersten drei. Das wäre aber die Mindestanforderung. Und die Vision muss sein, die Nummer eins zu werden.»
Wurde alles getan, dass man in St. Moritz als Gastgeber maximalen Erfolg haben kann?
«Davon bin ich überzeugt. Denn die Chance auf eine Heim-WM bietet sich nur alle 15 bis 20 Jahre. Am Montagabend nach der Eröffnungsfeier wird absolut jeder von uns vor dem Spiegel im Badezimmer stehen können und sagen: Ich bin parat und habe absolut alles gemacht, was in meiner Macht steht. Danach kommen dann noch genügend variable Faktoren wie Wetter, Wind und Material ins Spiel, die einem auf dem Weg zum Erfolg im Wege stehen können.»
Heimvorteil ist ein Begriff, der immer wieder gefallen ist. Wie hat man sich diesen geschaffen? Und wie will man ihn ausspielen?
«Das Ganze ist natürlich vielschichtig. Doch wenn man schon einen solchen Anlass bei sich hat, dann muss man möglichst alle Vorteile konsequent ausnützen. Das begann schon vor ein paar Jahren, als unsere Teams gerade im Frühling immer wieder in St. Moritz im Training waren und dort auch Material getestet haben. Auch wurden im Sommer die Pisten sehr bewusst abgeschritten. Viele kennen diesen Berg auswendig. So muss es auch sein. Zudem trainierten vor einigen Tagen unsere Teams noch absolut exklusiv auf den WM-Pisten.»
Vor die Wahl gestellt: Haben Sie lieber zwei Weltmeister oder sechs Silber-und Bronzemedaillen?
«Keine Frage: zwei Weltmeister natürlich.»
Weshalb?
«Da bringe ich gerne das Beispiel von Urs Kälin, immerhin Olympia- und zweimal WM-Zweiter im Riesenslalom. Doch Urs kennen ausserhalb der Ski-Szene nicht viele Leute. Als Weltmeister hingegen bleibt man viel stärker in Erinnerung. Wir als Verband haben die Aufgabe, die nötigen Strukturen für eine gewisse Breite zu schaffen. Aber am Schluss leben der Sport und eben auch wir von den Siegern, über diese werden Geschichten geschrieben. In der Öffentlichkeit und auch medial reichen gute Platzierungen alleine nicht, um attraktiv zu sein.»
Sie sagten kürzlich in einem Interview, dass für die Mittel, die Swiss-Ski den Teams zur Verfügung stellt, zu wenig zurückkomme. Dieses Gefühl könnte auch in den nächsten zwei Wochen aufkommen.
«Ich bin mittlerweile so weit zu sagen, dass wir aus den bestehenden Mitteln mehr herausholen müssen. Stichworte dafür sind Effizienz, Komfortzone, smartes Handeln. Dann schaffen wir es auch mit den Mitteln, die wir heute haben, zumindest die Nummer zwei zu werden. Gut möglich aber, dass es für die Nummer eins nochmals einen besonderen Effort auch im finanziellen Bereich braucht.»
Sie erwähnten die Seltenheit einer Heim-WM. Was sind die erhofften Langzeitwirkungen?
«Die Infrastruktur in St. Moritz ist nun auf einem ganz anderen Level. Der Ort ist im Weltcup als Destination noch fester verankert als früher. Egal, was die FIS in China oder sonst im Osten für Pläne hat.»
Swiss-Ski hat schon vor fast drei Jahren bestimmt, dass die nächste Schweizer WM-Kandidatur aus Crans-Montana kommen wird. Was waren die Überlegungen dahinter?
«Crans-Montana hat sich in den letzten Jahren im Weltcup wieder einen guten Namen erschaffen. Nun geht es darum, Crans-Montana als Kandidat nachhaltig aufzubauen und im Weltcup zu etablieren. Schon als Kandidat, aber gerade auch als WM-Ausrichter hast du quasi einen Fixplatz im Weltcup. Wir haben als nationaler Verband auch die Aufgabe zur geografischen Ausgewogenheit. Im Osten der Schweiz wird bereits seit längerem hervorragend gearbeitet, der Westen sollte nun möglichst nachziehen. Dass der Westen so gestützt wird, ist von langer Hand durchdacht und geplant. Dort ist der Grenznutzen für uns als Wintersportland grösser.»