Lehrplan 21 könnte das Bildungssystem auf den Kopf stellen

Der Lehrplan 21 ist abgesegnet. Nun entscheiden die Kantone über die Einführung. Experten sprechen von einem Paradigmenwechsel, Politiker regen sich über «Bildungsbürokraten» auf.

Werkunterricht in einer Schweizer Schule (Symbolbild) (Bild: sda)

Der Lehrplan 21 ist abgesegnet. Nun entscheiden die Kantone über die Einführung. Experten sprechen von einem Paradigmenwechsel, Politiker regen sich über «Bildungsbürokraten» auf.

Lange haben die Erziehungsdirektoren darüber gebrütet, jetzt ist die fertige Fassung des Lehrplan 21 auf dem Tisch. Der neue Lehrplan soll die Lernziele der Volksschule für die Deutschschweiz vereinheitlichen. «Wir haben einen Meilenstein erreicht, auf den wir stolz sind», sagte der Schaffhauser Regierungspräsident Christian Amsler, Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (D-EDK), am Freitag in Zürich vor den Medien.

Die im Frühling 2014 beschlossenen Aufträge zur Überarbeitung seien weitestgehend umgesetzt worden. Das Ergebnis übergebe man jetzt in die Obhut der Kantone.

Seit der Konsultation wurde der Lehrplan 21 um einen Fünftel gekürzt. Er umfasst neu 470 Seiten und 363 Kompetenzen. Die ursprüngliche Fassung war 557 Seiten lang und beinhaltete 453 Kompetenzen.

Die überwiegende Mehrheit der rund 1000 Rückmeldungen sei positiv gewesen, betonte Amsler. Zu reden gegeben hätten vor allem der Umfang des Lehrplans, der Detaillierungsgrad und die Höhe der Anforderungen. «Wir haben die Kritik gehört», versicherte der Vorsteher des Schaffhauser Erziehungsdepartements.

Straffung und Fokussierung

Einiges habe man gestrichen, Überschneidungen beseitigt sowie Kompetenzen und Kompetenzstufen zusammengefasst, ergänzte der Zuger Bildungsdirektor Stephan Schleiss. Insgesamt habe die D-EDK eine Straffung und Fokussierung über den gesamten Lehrplan erreicht.

Die Höhe der Anforderungen in einzelnen Bereichen wurde gesenkt. In den Fachbereichen Deutsch, Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften entsprechen die Grundansprüche weiterhin den gesamtschweizerisch geltenden Bildungsstandards. Zudem wurden im Fach Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) grundlegende Begriffe und Kerninhalte besser sichtbar gemacht.

Die Reaktionen aus der Politik könnten unterschiedlicher nicht sein: Die SVP schimpft über «Bildungsbürokraten», die mit der Lehrplan-Revision gesiegt hätten. Für SP-Nationalrat Matthias Aebischer handeln die Gegner des Lehrplans «rein ideologisch und hängen der Schule der 1950er Jahre nach».

Kritik am Kompetenzmodell

Das Zauberwort im neuen Lehrplan heisst «Kompetenzen», ein Begriff, der bereits in früheren Lehrplänen auftauchte. Nun soll aber fast alles darauf aufbauen.

Ein Beispiel: Im neu geschaffenen Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» heisst ein Ziel: Die Schüler auf Sekundarstufe «können die aktuelle Situation in die Klimaentwicklung einordnen, sowie Beiträge zur Begrenzung des Klimawandels in der Zukunft formulieren.» Es geht nicht um auswendig lernen von Fakten und Fachwissen, sondern häufig um einordnen und interpretieren.

Vielen geht der Lehrplan damit zu weit. Jürg Wiedemann meint dazu: «Der Lehrplan 21 fokussiert zu stark auf Kompetenzen. Die Inhalte müssten klarer definiert sein und darauf aufbauend die Kompetenzen folgen.»

Experten haben wenig auszusetzen

Denn mit unklar definierten Kompetenzen könne keine Harmonisierung der Schulen stattfinden, so Wiedemann. Aus Expertenkreisen hört man, der Lehrplan 21 entspreche den erziehungswissenschaftlichen Standards.

Gerade das Kompetenzmodell sei fortschrittlich und könnte das ganze Bildungssystem auf den Kopf stellen. Das hänge jedoch massgebend davon ab, inwiefern die Lehrer die Haltung des Lehrplans verinnerlichen, oder ob sie nur darüber schimpfen, erklärt ein Bildungsexperte, der aus arbeitsrechtlichen Gründen nicht erwähnt werden möchte.

Wann, wie und in welchem Umfang der Lehrplan eingeführt wird, entscheiden nun die Kantone. Die Einführung könne indes nur gelingen, wenn die Lehrerverbände und Schulleitungen einbezogen würden, sagt die Zürcher Erziehungsdirektorin Regine Aeppli.

In den meisten Kantonen ist die Einführung frühestens auf das Schuljahr 2017/18 geplant. In Basel-Stadt könnte die Einführung schon früher erfolgen – Erziehungsdirektor Christoph Eymann spricht einem Start ab 2015.

Kein Referendum in den Kantonen

Eine Mitwirkung der kantonalen Parlamente ist nicht vorgesehen. «Der Lehrplan 21 ist ein Fachinstrument für die Schulen», sagte Aeppli. Der Entscheid könne nicht mit einem Referendum bekämpft werden.

Mit dem Lehrplan 21 wird der Verfassungsauftrag umsetzt, die Unterrichtsziele an der Volksschule zu harmonisieren. Er ermöglicht laut Aeppli den Kantonen weiterhin, auf den verschiedenen Bildungsstufen in einzelnen Bildungsbereichen Schwerpunkte zu setzen.

Zu den Aufgaben der Kantone gehöre es, ihre Stundentafeln respektive Lektionentafeln zu überprüfen. Diese legen fest, wie viel Unterrichtszeit auf den verschiedenen Schulstufen für die jeweiligen Fächer aufgewendet werden soll.

Aeppli geht davon aus, dass sich die teils sehr unterschiedlichen Stundentafeln im Laufe der Jahre angleichen werden. Auch bei den Zeugnissen und Beurteilungen gebe es heute «sehr unterschiedliche Kulturen». Mit gemeinsamen Lehrmitteln und Kompetenzzielen werde hier jedoch auch hier allmählich eine Angleichung stattfinden.

Lehrerverband sichert «volle Unterstützung» zu

Vom Lehrer-Dachverband LCH wird der Lehrplan 21 «voll unterstützt», wie LCH-Zentralpräsident Beat Zemp sagte. Die Kantone stünden nun in einer «doppelten Verantwortung». Sie müssten den Lehrplan nicht nur einführen, sondern auch umsetzen. Dafür brauche es genügend Ressourcen und Zeit.

Klar sei aber auch, dass bei der Umsetzung «nicht so heiss gegessen, wie gekocht wird». Jeder Lehrplan sei ein Kind seiner Zeit, sagte Zemp. Für ihn sei es bereits der dritte Lehrplan, dessen Einführung er erlebe.

Auch der Verband der Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSL CH) begrüsst den «klaren Entscheid» der D-EDK, wie Präsident Bernard Gertsch sagte. Der Lehrplan 21 sei konkret und gebe Sicherheit. Genau dies brauche die Volksschule.

Der Lehrplan 21 ist ab sofort online verfügbar. In den nächsten Monaten werden noch kleine redaktionelle und sprachliche Anpassungen vorgenommen. Die druckfertige Version wird im März 2015 vorliegen.


Artikel erstellt mit Material der sda.

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