Les Grandes Ondes: Loblied auf das Leben

«Les Grandes Ondes (à l’ouest)» ist ein Road-Movie von Lionel Baier – und tout à fait oldschool! Der Film läuft derzeit in den Kult-Kinos. Das welsche Radio SSR steht im Kreuzfeuer der Obrigkeit: Der Bundesrat ortet ein tendenziöses Schweizbild. Ausgerechnet der kleinkarierte Programmleiter, der eine Affäre mit seiner feministischen Sendeleiterin hat, wird unter Druck gesetzt. […]

Das Trio enférnal: 'Les grandes ondes (à l'ouest)'

«Les Grandes Ondes (à l’ouest)» ist ein Road-Movie von Lionel Baier – und tout à fait oldschool! Der Film läuft derzeit in den Kult-Kinos.

Das welsche Radio SSR steht im Kreuzfeuer der Obrigkeit: Der Bundesrat ortet ein tendenziöses Schweizbild. Ausgerechnet der kleinkarierte Programmleiter, der eine Affäre mit seiner feministischen Sendeleiterin hat, wird unter Druck gesetzt. Die Berichterstattung soll sofort ausschliesslich das Positive ins Zentrum rücken. Rasch wird ein Team gebildet. Es gilt zu handeln. Warum nicht Positives über Schweizer Entwicklungshilfe berichten – in Portugal?

Das Road-Radio-Team besteht aus der erotisch unterforderten Kleinstadt-Frauenrechtlerin (wunderschön linkisch: Valérie Donzelli), mit einem scharfen Gedächtnis für männliche Töne, und einem grossstädtisch überforderten Macho-Reporter, dessen Gedächtnis zusehends aussetzt (Michel Vuillermoz als Sprachtraumtänzer). Die beiden sind im VW-Bus unterwegs, gefahren von einem Tonmann kurz vor dessen Pensionierung: Er fängt lieber Laute ein als die Worte der Interviewten. Erfunden hat das Trio samt dem zugeordneten Dolmetscher ein Cinéast alter Schule. Zeitfern. Menschenfreundlich. Gnadenlos filmverliebt: Lionel Baier.

Herrlich unschweizerisch schweizerisch: 'Les grandes ondes (à l'ouest)'

Herrlich unschweizerisch schweizerisch: ‚Les grandes ondes (à l’ouest)‘

Die Recherche zur Schweizer Entwicklungshilfe führt das Trio tief ins journalistische Niemandsland im portugiesischen Hinterland: Allerdings sind vom schweizerseits geförderten Dorf nur Strassen zu sehen, die finanzierte Kläranlage klärt nur Klares und die O-Töne der Portugiesen klingen militärisch angepasst: Die Reise «des Suisses» bringt wenig positive Töne. Nicht einmal der Tonsucher des Trios kann Aussagekräftiges auf sein Tonband bringen: in einem Schweizer Entwicklungshilfe-Brunnen stöbert er einen untergetauchten Portugiesen auf, der, auf einem Auge blind, sein Glasauge in der Faust hält. Doch wie hält man dieses Bild mit einem Tonband fest? 

Eben will das Quartett wieder die Heimreise antreten, als die Nelkenrevolution ausbricht.

Jetzt führt die Reise «des Suisses» immer tiefer in die brennende Aktualität: Je reicher die Recherche, umso kläglicher werden die Verbindungen nach Hause: Zum Schluss kann der Techniker nicht einmal mehr auf dem Telefonmast für eine Verbindung sorgen. Während der Sendeleiter zu Hause mit einer einzigen Geste mit dem Telefonkabel (gab es 1974 noch!) seine Möbel umreisst, stürzt sich seine Geliebte in den revolutionären Taumel.

Jetzt kommt auch endlich das Pathos der Musik von George Gershwin voll zum Tragen. Der Film von Lionel Baier erweist sich als präzise auf Gershwins Musik komponiert, und mit den Mitteln der musikalischen Vorlage montiert: Die Motive tauchen variiert, dramaturgisch zugespitzt wieder auf, werden verdichtet, wie bei den atonalen Spielereien der Vorlage.

Ein Film mit vielen Referenzen  in Musik, Sprache und Bild

Nur zu Beginn liefert Grillenzirpen die Musik. Danach liefert der musikalische Magier Gershwin dem Bildertüftler Baier Material. Dem russischen Temperament des grossen Amerikaners stellt Baier sein komödiantisches Understatement entgegen. Er arbeitet mit seiner unaufdringlichen Komik liebevoll gegen das Pathos der Musik.

Der Provinz-Starreporter zum Beispiel gilt als eine Exzellenz der Sprachkunst. Seine internationalen Sprachkenntnisse erweisen sich im portugiesischen Hinterland allerdings bald als pures Kauderwelsch. Was er da von sich gibt, ist in vielen Situationen nicht viel weniger als Schall und noch weniger Rauch: Ein wundervolles Motiv von Schweizer Polyglottie, mit der er für wenig Einsicht, aber oft für Aufsehen sorgt.

Erst als der Schwadroneur auf dem Höhepunkt der Revolution in Lissabon den nach Demokratie dürstenden Protugiesen das Schweizer System in seinem Welsch erklärt, macht das Sinn: Es kommt zu einer echten Entwicklungshilfe. Wie einst der Dadaist Hugo Ball auf dem Kneipentisch der Zürcher Bohème wird der Schweizer für seine aberwitzigen Forderungen als Freiheitsheld gefeiert.

'Les grandes ondes (à l'ouest)'

‚Les grandes ondes (à l’ouest)‘

Chapeau für Pagnol

Lionel Baier erweist sich in den filmischen Referenzen als gewiefter Historiker: Ganz leise lässt er erst den portugiesischen Dolmetscher von Marcel Pagnol schwärmen. Dann zeichnet er seine Figuren durchaus in der Art Pagnols: Starrsinnig, gefühlsduselig und unbeirrbar im Glauben an Gottes Unzulänglichkeit: Als die Feministin um ein Zeichen des Herrn bittet, zischt im Hintergrund, von ihr unbemerkt, die Sternschnuppe durch ihren Himmel.

Auch in der Besetzung beweist Baier Rafinesse: Ausgerechnet Jean-Stéphane Bron, der in «Mais im Bundeshuus» und «Expérience Blocher» hinter die Berner Kulissen blickte,  lässt er den opportunistischen Programmleiter spielen. Bron ergänzt sein Porträt aus der Enge der bundesrätlichen Amtsstube. 

Am häufigsten erweist Baier seinem musikalischen «Maître d’orchestre» seine Referenz: Als die Revolution zu kippen droht, lässt Baier die heikle Szene einfach in eine Tanzszene kippen: In dieser bildlichen Variation folgt er der Musik und nimmt der Steigerung das Grausame: Das Gute siegt mit der Kunst. Die Musik wird zum Helden der Revolution.  

Auch Pagnol wird – für eine Einstellung – sogar zu einer Hauptperson im Film: Unten im Hafen von Marseille glaubt man einen kurzen Augenblick Fanny in «Marius» zu erkennen. Doch dann war doch alles zu spät: Ein paar Tage vor der Nelkenrevolution ist das Idol des jungen portugiesischen Dolmetschers gestorben. Da ist der schon fast selber eine Figur Pagnols. Mitten in den Schlussakkorden von Gershwins «Porgy and Bess».

Herzerfrischend nicht-deutschschweizerisch

Es ist ein bunter, verspielter Bilderbogen, den Lionel Baier präsentiert. Gut, dass es dieses Schweizer Kino auch gibt: Mit Liebe zu den Schauspielern. Mit einem Lächeln für die Schweizer Scheiternden. Mit einem Loblied auf das filmische Leben. Und einer gehörigen Portion Anarchie und angewandter Unperfektion.

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