Liberté in Gefahr? Frankreichs autoritäre Versuchung

Der Ausnahmezustand ist in Frankreich auf über ein Jahr verlängert worden. Bedroht er den Rechtsstaat eines grossen europäischen Kernlandes? Experten sprechen schon vom Trend der «illiberalen Demokratie». Doch die Präsidentschaftswahlen sind möglicherweise gefährlicher.

Derart bewachte Strände – hier während der Euro 2016 – gehören auch nach der Fussball-Saison zum französischen Alltag.

(Bild: Reuters, Eric Gaillard)

Der Ausnahmezustand ist in Frankreich auf über ein Jahr verlängert worden. Bedroht er den Rechtsstaat eines grossen europäischen Kernlandes? Experten sprechen schon vom Trend der «illiberalen Demokratie». Doch die Präsidentschaftswahlen sind möglicherweise gefährlicher.

«Durchsage der Strandwache: Der Eigentümer der beigen Badetasche vor den Umkleidekabinen soll sich bitte umgehend beim nächsten Posten melden.»

Sonntag in Deauville, dem mondänen Badeort und Hausstrand der Pariser Aristokratie. Die Badetasche wurde abgeholt und musste von der Polizei nicht gesprengt werden. Die Angst vor einer Bombe ist aber selbst in der ungezwungenen Atmosphäre des riesigen Normandie-Strandes präsent. Die Rue Eugène Colas, für den Markt zur Fussgängerzone gemacht, ist auf der einen Seite durch schwere Betonblöcke abgesichert, auf der anderen Seiten sperrt wie zufällig ein Lieferwagen der Stadtverwaltung die Zufahrt ab. Zufall ist es mitnichten: Der furchtbare Lastwagenanschlag vom 14. Juli in Nizza (84 Tote) soll sich hier am Ärmelkanal nicht wiederholen.

Frankreich lebt seit Monaten, ja seit Jahren mit dem Gefühl einer unfassbaren Gefahr: Der Tourismus ist nach unbestätigten Angaben um rund fünf Prozent eingebrochen. Vor allem die Ausländer bleiben aus; an der Côte d’Azur haben Chinesen, Amerikaner und Russen ihre Reisen en masse annulliert. Die Franzosen lassen sich die Ferien weniger vergällen, vielleicht auch, weil sie gelernt haben, dass «es» überall passieren kann. Rein statistisch gesehen sind die Chancen dafür aber minim.

Die strapazierten Nerven der Nation

Auf jeden Fall zerren die seit anderthalb Jahren nicht mehr abreissenden Attentate an den Nerven der Nation. Die brutale Ermordung eines 86-jährigen Priesters im Normandie-Ort Saint-Etienne-du-Rouvray hat die Nation vor Wochenfrist erneut erschüttert.
 
Wer sich mit Franzosen heute unterhält, darf sich nicht wundern: Der einigende «Geist von Charlie» nach dem ersten Multiattentat (Pariser Polizeijargon) von Januar 2015 ist verflogen; jetzt verlangen auch besonnene Bürger, dass die Polizei zur Sache geht. Mehr als vier Fünftel der Befragten sind laut Umfragen bereit, die Freiheitsrechte einzuschränken, um der Terrorabwehr mehr Mittel in die Hände zu geben. Nirgends regte sich hörbar Widerstand, als das Parlament Ende Juli den Ausnahmezustand auf nunmehr über ein Jahr bis Anfang 2017 verlängerte.

Härte gefordert

Die Franzosen sind für ein unzimperliches Vorgehen gegen Terrorverdächtige, konkret gegen jene mehrere Tausend Radikalislamisten in der so genannten «S-Kartei» («S» für «sûreté», Staatssicherheit). Die Polizei benützt ihr Recht, ohne richterliche Kontrolle Computer und Handys zu beschlagnahmen, Hausarrest zu verhängen oder Razzien vorzunehmen.

Nicht immer trifft sie ins Schwarze: Françoise und Pierre Caputo, zwei unbescholtene Bürger aus Nizza, beide über 80, schreckten im Juli um 6 Uhr früh aus ihrem Bett hoch, als auf dem Flur jemand das Türschloss durchschoss und eine Gruppe vermummter Männer in die Wohnung stürmte. Es waren zum Glück nur Gendarmen, die sich in der Tür geirrt hatten. Sie grüssten, ohne sich zu entschuldigen, und drangen in die Nachbarwohnung ein, wo sie einen jungen Mann abführten.

Viele Franzosen fühlen sich gar nicht betroffen von dem Ausnahmerecht. So war es schon im Algerienkrieg gewesen, als das Notrecht in die Verfassung eingeführt wurde, um in Algerien durchgreifen zu können. Jetzt finden die Hausdurchsuchungen vor allem in Banlieue-Vierteln statt – sie liegen für viele Franzosen gefühlt nicht näher als Algerien. Alles in allem hört man aber sehr selten von «bavures», polizeilichen Schnitzern. Dafür sorgt auch der sozialistische Innenminister Bernard Cazeneuve, der so buchstabengetreu wie ein guter Bürokrat vorgeht und erklärt: «Wir können nicht den Rechtsstaat verlassen, um den Rechtsstaat zu schützen.»

Menschenrechte bedroht, autoritäre Führung erwünscht

Paris informierte den Europarat über die Aussetzung einzelner Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Folgen sind beschränkt, wenn man davon absieht, dass sich auch die Türkei zu einer ähnlichen Demarche bemüssigt fühlte. In Frankreich selbst spielen die republikanischen Regeln weiterhin. Grüne und Kommunisten wenden zwar mit Recht ein, die Regierung benütze das Notrecht auch, um missliebige Protestdemos (etwa gegen den umstrittenen Flughafen Notre-Dame-des-Landes bei Nantes) zu untersagen. Allerdings bräuchte Cazeneuve dazu keinen Ausnahmezustand.

Politologen sehen einen neuen Trend zur «illiberalen Demokratie». Auch das mag für die Türkei zutreffen, aber nicht für Frankreich. Schon deshalb, weil der Trend im unliberalen und staatsgläubigen Frankreich nicht neu ist: Dessen revolutionär-republikanische Geschichte kennt einige «Klammern», von Napoleon I. und III. über Vichy bis zur Kolonialzeit. Der Historiker Zeev Sternhell hält Frankreich wegen seines individualismusfreindlichen Staatswesens gar für die ideelle Wiege des Faschismus.

Allerdings war Frankreich schon für viele Ideen die Wiege. Gewiss hatte die Grande Nation schon immer ein gespanntes Verhältnis zur Demokratie, und die Franzosen wären heute mehr denn je bereit, sich in die Arme eines vermeintlichen «homme de providence» (Mannes der Vorsehung) zu stürzen. Im Oktober 2015, also noch vor den schweren Attentaten gegen das Bataclan-Lokal, wünschten in einer Umfrage 67 Prozent der Franzosen eine nicht gewählte Regierung aus Technokraten, um unpopuläre Reformen durchzuführen, und 40 Prozent wollten sogar eine «autoritäre Staatsführung».

Terrormüdigkeit und gefährliche Demagogie

Allerdings kommt es bei solchen Umfragen immer auf die Fragestellung an. Die Franzosen mögen demokratiemüde sein, und, was noch verständlicher ist, terrormüde. Aber sie bleiben überzeugte Republikaner. Sie denken letztlich konservativ und lieben, wie schon Friedrich Sieburg vor bald 100 Jahren schrieb, den «bon sens», der nicht nur den gesunden Menschenverstand meint, sondern auch das Masshalten in allen Dingen. Frankreichs impulsives Temperament ist im Normalfall sehr pragmatisch, bisweilen opportunistisch. Darin mischt sich ein gelebtes Misstrauen gegen die Staats- und Polizeigewalt.

Kurz, die Demokratie ist in Paris derzeit nicht in Gefahr. Die Franzosen wollen keine weiteren Exzesse, keine Experimente und keinen «Krieg», wie die Terrorabwehr heute vielenorts genannt wird; sie wollen nur Ruhe vor den Anschlägen. Das hat sogar die politische Brandstifterin Marine Le Pen erkannt: Sie macht auf ihren Plakaten Kampagne für «la France apaisée» (Frankreich im Frieden) und gibt vor, sie sei «kompromisslos» für den Rechtsstaat.

Zugleich vermengt sie die Terrorbekämpfung mit ihrer alten Forderung nach einem «Immigrationsstopp und Veto gegen die Flüchtlingsaufnahme». Diese geschickte, demagogische Verquickung polizeilicher und politischer Massnahmen hat Erfolg. Le Pen liegt weiterhin in allen Umfragen für die Präsidentschaftswahlen von Mai 2017 vorne – zumindest, was den ersten Wahlgang anbelangt. Nach jetzigem Stand dürfte sie kein Stimmenmehr für den Einzug ins Elysée erhalten.

«Totaler Krieg» – wie lange hält der soziale Frieden?

Doch das kann ändern. Schon heute besteht die politische Gefahr darin, dass Le Pens Diskurs die anderen Parteien ansteckt, angefangen von den konservativen Republikanern. Ihre Nummer eins, Nicolas Sarkozy, verlangt den «totalen Krieg» gegen die Islamisten, die Nummer zwei, Laurent Wauquiez, schiebt nach, man müsse «das Recht dem Krieg anpassen». Auch Präsident François Hollande, der verzweifelt um seine Wiederwahlkandidatur kämpft, vollzog nach dem Attentat von Nizza binnen 24 Stunden eine Kehrtwende und verlangte wieder die Fortsetzung des Ausnahmezustandes.

Dabei hat der eigentliche Wahlkampf noch nicht einmal begonnen. Die schätzungsweise fünf Millionen Muslime Frankreichs, die schon heute schief angeschaut werden, wenn sie Zug oder Metro fahren oder einen Rucksack tragen, befürchten das Schlimmste.

«Niemand weiss, wie weit das Übel noch gehen kann», meint der Autor Eric Verhaeghe zur anhaltenden Terrorgefahr. «Bisher ist es nicht zum Phänomen ethnischer Repressalien gekommen. Aber man kann sich fragen, wie lange der scheinbare zivile Frieden noch halten wird.»

Frankreich sträubt sich gegen die autoritäre Versuchung. Aber jedes Attentat lässt den Widerstand etwas mehr bröckeln.

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