Lichtspiele: Gefangen im Netz

Der Film «Disconnect» denkt ein paar entscheidende Mausklicks zu Ende. Eigentlich ist alles im Eröffnungssong von Awolnation gesagt: «Maybe I should cry for help. Maybe I should kill myself!» Früher konnte ein Mobbing beginnen, wenn zwei über einen abwesenden Dritten redeten. Wer als Vierter dazu stiess, konnte, ohne es zu merken, das entscheidende Bindeglied zu […]

Jason Bateman spielt den Vater eines schweigsamen 15-Jährigen.

Der Film «Disconnect» denkt ein paar entscheidende Mausklicks zu Ende.

Eigentlich ist alles im Eröffnungssong von Awolnation gesagt: «Maybe I should cry for help. Maybe I should kill myself!» Früher konnte ein Mobbing beginnen, wenn zwei über einen abwesenden Dritten redeten. Wer als Vierter dazu stiess, konnte, ohne es zu merken, das entscheidende Bindeglied zu einer Tat sein. Das Opfer konnte später nur selten einen Täter benennen.

Heute kann Mobbing mit einem einfachen Mausklick beginnen. Anonym. Unsichtbar. Einsam. Tödlich. Es hilft nur, Auge in Auge mit einem Menschen zu reden. Aber im Netz sind Täter nur schwer zu eruieren. Was einmal im Netz angeklickt ist, führt ein bedrohliches Eigenleben.

Augerechnet in Familienumfelder bettet «Disconnect» seine Cybermobbing-Geschichten. Dorthin, wo eigentlich analoge, alte Schule herrscht und man noch Auge in Auge miteinander reden könnte.

Vier Varianten der Vaterlosigkeit

Viermal wird uns vom Regisseur Henry Alex Rubin eine Vater-Sohn-Geschichte vorgeführt. Viermal spielt «Disconnect» mit unseren Erwartungen. Viermal ist der Ausgangspunkt eine Familienkonstellation. Vier lose ineinander verschachtelte Geschichten kumulieren in einem Showdown, wie ihn einst Iñàrritu erfand, in einem Thrillerschluss mit Höhepunkt. «Disconnect» ist grandios im Look. Subtil im Spiel. Klug in der Analyse der Opfer-Täter-Schemata. Ein Vergnügen für all jene, die gerne Wirklichkeit anhand von repräsentativen Modellen diskutieren. 

Als Alexander Mitscherlich 1963 die «Vaterlose Gesellschaft» diagnostizierte, stellte das die bürgerlichen Wertvorstellungen in einen neuen Zusammenhang: Die Abwesenheit von Vätern würde in Zukunft eine Werteänderung bedeuten. In der Zukunft, so diagnostizierte Mitscherlich damals, werden Väter nur noch repräsentativ anwesend sein.

Die Trennlinie verläuft nicht zwischen den Generationen, sondern zwischen analog und digital.

In unserer Gegenwart, die damals noch Zukunft war, spielt «Disconnnect» mit der aktuellen Lage der Elternlosen: Die Väter dieser Generation sind selber seit Generationen in der alleinerziehenden Gesellschaft aufgewachsen. Zudem hat in der Zwischenzeit die digitale Gesellschaft die vaterlose Gesellschaft überrumpelt. Die Trennlinie verläuft nicht mehr zwischen den Generationen sondern zwischen den analogen und den digitalen Jugendlichen, Erwachsenen, Kindern, Eltern. Jugendliche sind meist mit allen besser vernetzt als mit ihren Eltern, mit denen sie ja zu Hause reden könnten. Wenn sie mal zu Hause wären.

Wie diese Elternlosigkeit bei der digitalen Generation der vier Söhne von «Disconnect» aussieht, deren Geschichten der Film miteinander verbindet, könnte unterschiedlicher nicht sein.

Vier Elternrollen

Rich Boyd (Jason Bateman), der Jurist, akzeptiert es, dass sein 15-jähriger Sohn kaum ein Wort zu ihm sagt. Er selber, sagt er, habe auch erst mit siebzehn angefangen zu reden. Wohl fällt ihm auf, dass sein Sohn sehr zurückgezogen lebt. Aber solange in der Schule alles reibungslos läuft, ist der erfolgreiche Jurist ein glücklicher Vater.

Ein ganz anderer Vater ist Derek Hull (Alexander Skarsgård), der Marinesoldat im Krieg war. Seine Vaterrolle zeigt Risse, als sein Kind im ersten Lebensjahr stirbt: Der Kriegseinsatz hat Derek für zartere Gefühle unempfänglich gemacht. Er lässt seine Frau in den feinsinnigen Veränderungen ihrer Beziehung allein. Den Tod ihres Kindes muss sie ohne ihn verarbeiten. Als weiteres Ungemach droht, kommt eine ganz andere Männerrolle zum Vorschein: Ein Cyberkrimineller hat ihre Guthaben geraubt. Das lässt Derek wieder zum Soldaten werden.

Am meisten Vater versucht Mike Dixon (Frank Grillo), der ehemalige Polizist, zu sein. Er wollte nach dem Tod seiner Frau seinem Sohn Mutter und Vater zugleich sein. Als Alleinerziehender schaffte er es aber nicht einmal, der Kumpel seines Sohnes zu werden: Wenn sein Sohn sich bei ihm für eine Lüge entschuldigt, lächelt der Vater nur noch müde. Ironie ist der herrschende Ton zwischen den beiden Fremdgewordenen.

Kyles (Max Thieriot) Vater ist in der Geschichte gar nicht mehr sichtbar. An Vaters Stelle kümmert sich Ryan, der Zuhälter, der das Call-Center der Call-Boys und -Girls leitet, um den Jungen: Er verkauft ihn für Sex-Chats, Kamera zu Kamera. Bis Nina Dunham (Andrea Riseborough), die Reporterin, auftaucht. Für eine Recherche überredet sie Kyle zu einem Interview und lenkt damit die Fahnder des FBI auf dessen Spur. Ohne es zu wollen, wird sie für den Jungen zu einer Ersatzmutter.

In den Maschen des Netzes

Viermal findet der entscheidende Klick der Geschichte im Netz statt: Da wird ein Nerd fälschlicherweise als Täter identifizert. Da entscheidet sich ein Täter zu spät, sein Profil zu löschen. Da wird ein Paar mit allen Lügen der Vergangenheit konfrontiert. Da hat eine einzige Büberei ein Leben in Gefahr gebracht. «Disconnect» zeigt drei jugendliche Schicksale, die lose im Netz verbunden sind.

Ben Boyd ist ein scheuer Junge. Sein Vater nennt ihn Mozart. Seine Mutter muss ihm jedes Wort aus der Nase ziehen. Ben schweigt sich nicht nur bei seinen Eltern aus. Mit Gleichaltrigen kann er auch nicht viel anfangen. Dafür die um so mehr mit ihm. Auf dem Pausenhof wird er gehänselt. Am Mittagstisch ist für ihn nur Platz frei an einem leeren Tisch. Bens rettet sich in die Musik.

Drei Jungs können ihr Leben im Netz nicht mit dem Leben in der Wirklichkeit in Deckung bringen.

Klyne, der junge Stricher, ist ein vaterloser Geselle. Er hat seinen Weg in die Gesellschaft gefunden. Er verkauft seinen Körper. Damit hat er eigentlich kein Problem. Es ist alles nur eine Frage des Preises. Aber der Preis wird nur über das Netz gestellt.

Jason Dixon ist eigentlich ein scheuer Junge. Er trägt nicht schwer an der Last, dass sein Vater für ihn seine Karriere aufgab. Eigentlich würde er nie jemandem etwas Böses antun können. Er ist eher ein Mitläufer. Bei Bubenstreichen hat er die besten Ideen. Eine seiner Ideen endet schliesslich im Netz – ganz hässlich.

Das Cybermobbing ist in den sozialen Netzwerken inhärent

Im Netz finden die drei Jungs ihre Kontakt- und Ausschlussbörsen: Was oberflächlich wie ein normaler Umgang von Jugendlichen mit sozialen Netzwerken aussieht, ist in Wahrheit eine Welt, die den Eintritt nur Auserwählten gewährt. Geräte, Software, Kennwörter schaffen in den Netzwerken versteckte Aufnahme-Bedingungen. Mit Geheimsprachen, verschlüsselten Codes, Kennwörtern dient jedes Netzwerk dazu, letzlich die Verantwortung zu delegieren. Für ein Cybermobbing reicht ein Mausklick. Eine Lüge über ein Mobbingopfer braucht nicht einmal mehr erfunden zu werden.

«Disconnect» schildert ein Zeitgefühl ohne Zynismus.

Der Film schafft es, seine Botschaft mit einem grandiosen Look zu verbinden. Die Kamera erzeugt aus verdeckten Positionen eine permanente Beobachtungssituation. Die häufigen Teleobjektiv-Einstellungen rücken den Figuren mit stalkerischer Tiefenschärfe auf den Leib. Was andere Thriller nur sparsam einsetzen, schafft in «Disconnect» eine permanente Bedrohungssituation.

«Disconnect» zeigt aber auch, wie gezeigt wird. Die Kamera vor der Kamera in den TV-Sequenzen, wie auch die Handykameras, die alles festhalten, verstärken den Eindruck der permanenten gegenseitigen Beobachtung.

Das unaufwendige und authentische Spiel des Teams schafft ausserdem eine zusätzliche Nähe, ja, Privatheit, in die wir mit der neugierigen Kamera fast immer eindringen. An «Disconnect» nehmen wir als ungebetene Gäste teil. Als hätten wir uns auf der Harddisk dieser Familien als Hacker eingeloggt. «Disconnect» ist nicht zuletzt deshalb ein gerissener Diskussionsbeitrag über die rasant abnehmende Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.

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