Was passiert mit uns und den vielen Büchern, wenn wir bald nicht mehr lesen können müssen, um in der Welt zurecht zu kommen?
Kinder können bald nicht mehr lesen, Studenten verstehen abstrakte Texte nicht mehr, Banker besuchen Lesekurse, Google macht uns schampar dumm, dank Wikipedia und einem Smartphone müssen wir uns eh nichts mehr merken und wenn die neue Google Glass nicht mehr ganz so doof aussieht, bleibt uns demnächst sogar das mühsame Namenmerken an Geburtstagen erspart. «Der mit der Nerdbrille» ist dann Paul, der andere «Jutebeutel» sein Freund Florian und «die Kleine daneben» Anna, weiss die Glass.
Wenn wir bald nicht mehr lesen können müssen, um in der Welt zurecht zu kommen – oder eben höchstens noch häppchenweise – was passiert dann mit uns? Und mit den vielen Büchern? Laut Google gibt es immerhin 128’864’880 Bücher, denen dann einfach keine Beachtung mehr gegeben würde. Zugegeben, diese rund 1032’216’220’000 Seiten könnte ohnehin kein Mensch lesen; auch nicht in mehreren Leben. Aber da ich mir denn Himmel ohnehin als Borges unendliche Bibliothek vorstelle, ist das nicht so schlimm. Ich freue mich auf das viele Lesen danach!
Die Frage, die sich uns allerdings ganz unabhängig von all diesen Zahlen und düsteren Carr’schen Zukunftsszenarien («Is Google Making Us Stupid?») stellt, ist: Wie verändert sich unser Leseverhalten im Zusammenhang mit dem Internet, dem Kindle-Reader oder kurz gesagt, den digitalen Medien?
Unter den neuen Bedingungen der digitalen Arbeits- und Medienwelt hat sich nicht nur unser alltägliches Leseverhalten verändert, sondern auch die wissenschaftliche Disziplin, die sich damit beschäftigt. Ein Beispiel aus der Ringvorlesung Digital Media Studies in der Praxis vom Dienstag soll dies näher erläutern:
Lesen im Hypertext
Angesichts der permanenten Informations- und Reizüberflutung, der Masse an Texten, Bildern und Klängen, die den ganzen Tag an uns vorbeirauschen, erstaunt es nicht, dass wir ziemlich gute «Skimmer» (Oberflächenleser oder Textüberflieger) geworden sind. Häppcheninformation im 20 Minuten-Stil, Teasertexte, die immer mit einem «mehr» enden, Pushnachrichten, die Abstimmungsergebnisse oder Fussballresultate auf zwei Zeilen präsentieren und schnelles Parallellesen von verschiedenen Texten (oder Titeln?), gehören in unseren Alltag. Genaues Lesen ist nur noch in den seltensten Fällen gefragt und sind wir ehrlich, für viel mehr reicht die Zeit auch einfach nicht, denn in Eile ist man schliesslich ziemlich oft.
«Hyper Reading» nennt sich dieses sprunghafte, nicht-lineare Lesen, das sich mit dem Computer zu einer kulturell dominanten Lesetechnik entwickelt hat. Es gibt verschiedene Hyper Reading Strategien, wovon die folgenden fünf neben dem Nebeneinanderstellen von verschiedenen Fenstern oder Tabs (juxtaposing) und das Scannen von Texten auf ihre Schlüsselpassagen hin (scanning), sicherlich jeder aus seinem alltäglichen Leseverhalten kennt: Filtern von Text (filtering), Überfliegen von Text (skimming), Herauspicken von Text (pecking), Texts als Bildabfolge oder Film lesen (filming) oder den Text in kleine Stückchen zerteilen (fragmenting).
Unsere digitale Datenspur, die wir beim Hyper Reading im Netz hinterlassen, kann ziemlich genau nachverfolgt werden. Das digitale Lesen macht uns zu sogenannten «gläsernen» Lesern. Wenn Sie einen E-Reader benutzen wird genauestens erfasst, wie lange sie durchnittlich lesen, wann sie blättern, welche Seite nur überflogen bzw. gar nicht gelesen wurde etc. Was wenn diese Leseinformationen von und über uns schliesslich wieder für die Text- und Buchproduktion verwendet werden? Also die Verlage unter Umständen nur noch Bücher produzieren, die gefallen und beispielsweise innert so und so vielen Stunden gelesen werden können? Natürlich immer mit dem Ziel Geld zu verdienen und Texte zu produzieren/vermarkten, die einer möglichst grossen Leserschaft zusagen.
Solche Standardisierungsangebote bergen die Gefahr, dass gesellschaftlicher Sprachreichtum und die Diversität der Literatur beschnitten wird. Für Onlinemedien ist das nichts Neues. Es gibt schon solche, die Nachrichten auf Nachfrage machen: Redakteure schreiben im Stundentakt kurze Artikel zu jenen Stichwörtern, die aktuell bei Google am häufigsten eingegeben werden.
Und wenn ich mir nun vorstelle, dass in einigen Jahren vielleicht an der Frankfurter Buchmesse nicht mehr rund 90’000 neue Bücher präsentiert werden, sondern einige Tausend, die alle gleich klingen und womöglich auch noch alle ähnliche Covers haben, weil die Kindle-Analyse ergeben hat, dass viel häufiger nach den blauen als nach den grünen Covers gegriffen wird, dann freue ich mich umso mehr auf meinen Himmel und Borges unendliche Bibliothek da oben.
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Soziale Netzwerke prägen unseren Alltag, aber in Filmen werden sie größtenteils ausgespart: zu langweilig zum Abfilmen. «Noah» ist einer der ersten Versuche, dieses Prinzip zu durchbrechen. Der gesamte Film spielt im Browser oder auf dem Smartphone-Bildschirm und zeigt damit schön, wie Hyper Reading in der Praxis funktioniert.