Locarno: Hinter den Bildern schimmert Wirklichkeit

Locarno stöhnt unter der Hitze und geniesst schwerblütige und leichtfüssige Filme. Die Festivalbesucher bezeugen aber auch erste, vergnügliche Höhepunkte. Augenöffner wechseln mit Ohrenschmaus ab. Hinter allen Bildern, fordert der Festivalleiter, solle die Wirklichkeit durchschimmern. Edward Norton, Andy Garcia und Cecile de France waren die Publikums-Magnete der ersten Tage in Locarno. Und wie brillierte die neue […]

«Brat Dejan», die Einsamkeit des Täters.

Locarno stöhnt unter der Hitze und geniesst schwerblütige und leichtfüssige Filme. Die Festivalbesucher bezeugen aber auch erste, vergnügliche Höhepunkte. Augenöffner wechseln mit Ohrenschmaus ab. Hinter allen Bildern, fordert der Festivalleiter, solle die Wirklichkeit durchschimmern.

Edward Norton, Andy Garcia und Cecile de France waren die Publikums-Magnete der ersten Tage in Locarno. Und wie brillierte die neue Kunst? Hinterhältig, leichtfüssig und schwerblütig.

Carlo Chatrian mit Edward Norton in Erwartung von Glamour-Tagen

Carlo Chatrian mit Edward Norton in Erwartung von Glamour-Tagen

«Kino ist Unterhaltung und Flucht, Vergnügen und Traum in einem.» So beschrieb Festivalchef Carlo Chatrian das Kino in seinem «Haus der Bilder», in dem Wirklichkeit und Fiktion glücklich koexistieren: Unter dem Himmelsdach der Piazza von Locarno sollen aber Filme mehr sein als Träume im Wachzustand. Filme sollen «uns daran erinnern, dass hinter jeder filmischen Fiktion auch eine Wirklichkeit schimmert…»

Damit benennt Chatrian auch seine Rolle als Kurator. Er will mit dem Programm ein Sensorium für das aktuelle Filmschaffen entwickeln. Und er will auch Augenöffner bieten – für die Wirklichkeit, die hinter den Bildern schimmert. Er will mehr als geistvolles Volksvergnügen auf der Piazza Grande. Gespannt darf man sein, ob das Publikum mitzieht. Drei Beispiele.

Beispiel 1: Die Boten der Wirklichkeit

Es fängt mit Booten an. In «Lampedusa im Winter» (von der Baslerin Nela Märki koproduziert und geschnitten) liegen Schiffsskelette im Hafen. Ein Paar – es könnten Fischer sein – sammelt auf Bootsruinen Gegenstände ein. Sie zeigen sich Notizbücher, Wäschestücke, ein T-Shirt mit dem Aufdruck «Thank You for Your Visit».

Lampedusa ist ein bevorzugter Zielort für Schlepperboote im Mittelmeer. Von dort werden – seit 2011 mit Schweizer Beteiligung – Flüchtlinge gerettet oder eben auch nicht: Wir sichten die Hinterlassenschaften von Toten. Die Boote sind gekenterte Flüchtlingskutter. 

Rasch beschleicht den Betrachter dieser Bilder die Befürchtung, Regisseur Jakob Brossmann habe mit dem Titel «Lampedusa im Winter» schon alles gesagt: Es folgen traurige Bilder, die wir zu kennen glauben – von den vielen Tagesschauerregen, die täglich auf uns einprasseln. Doch dann folgt die Überraschung: Hinter diesen Bildern lauert eine Wirklichkeit, die die Nachrichtensendungen verschweigen. Brossmann hakt nach.

«Lampedusa im Winter» – die Insel ist mehr als nur Anlaufstelle der Bootsflüchtlinge.

«Lampedusa im Winter» – die Insel ist mehr als nur Anlaufstelle der Bootsflüchtlinge.

Der soziale Sprengstoff sind nicht die Füchtlinge – sie entzünden ihn nur

Während der Film uns auf die Spuren der gekenterten Boote schickt, stösst er auf sozialen Sprengstoff: Die Fischer der Insel, Familien, arme Schlucker streiken. Ihnen, die immer häufiger Flüchtlinge aus den Küstengewässern ziehen (und immer seltener Fische), wird die Fähre genommen, die ihnen den Transport ihrer Ware garantiert. Sie streiken nicht etwa gegen die Flüchtlinge. Sondern für ihr eigenes Überleben.

Plötzlich wird klar, was Flüchtlingselend auch heisst: Während die Einheimischen ihr Lampedusa als Rettungsinsel der Gestrandeten mit dem Festland verbunden sehen wollen, stehen sie plötzlich selber als arme Schlucker den armen Schluckern aus Afrika gegenüber. Die hilflosen Helfer wollen, dass ihnen geholfen wird. Die Bürgermeisterin vermittelt mit dem Megaphon.

Christian Flatzek und Serafin Spitzer haben mit der Kamera bestechende Bilder vom Winter-Blues auf Lampedusa eingefangen: Ein Fotograf rückt die Fundgegenstände von Toten künstlerisch ins Bild. Eine Einheimische pflückt Kräuter am Strand. Ein Boxschüler prügelt auf eine Boje ein. Die Jungs üben den Ernstkampf als Fussballer. «Lampedusa im Winter» bietet weit mehr als hübschen Nachrichtendienst.

Durch all die Bilder schimmert eine fein beobachtete Wirklichkeit: Ob Gestrandete oder Ortsanwesende – beide Seiten wollen nicht zum Spielball werden. Die Flüchtlingsfrage wird an einem sozialen Brennpunkt des Gastlandes zum Sprengstoff. Die Opfer treffen auf Opfer – die Täter bleiben im Verborgenen.

Beispiel 2: Kriegsopfer und Kriegstäter

Wie Chatrian es ankündigte, schimmert die Wirklichkeit hinter den Bildern manchmal auch erst im Zusammenspiel der verschiedenen Filme: Einer der umstrittensten Beiträge kommt in diesem Jahr aus Serbien: «Brat Dejan».

Hyperrealistisch fotografiert, akribisch naturalistisch gespielt, ist «Brat Dejan» ein erschreckender Negativabzug einer Flüchtlingsfotografie. Ein georgischer Regisseur beleuchtet für einmal nicht das Los der Kriegsopfer. Er interessiert sich für einen Kriegstäter. In «Brat Dejan» steht ein einzelner Kriegsflüchtling im Mittelpunkt, ein General. Sein Untertauchen wird gezeigt, ohne dass diese Dokufiktion mit einem Wort erwähnt, warum dies geschieht.

Der Regisseur zwingt uns, zu tun, was der Projektor hinter uns auch tut: Wir projizieren das Böse in den Täter hinein – und damit hat der Film recht: Wir alle  wissen, was ein Täter in einem Krieg tut. Wir alle sehen die Folgen täglich in News-Bildern. Wir alle sehen täglich die Opfer der Kriege dieser Generäle.

Aber sehen wir die Täter? Marko Nikolic, einer der grossen, vergessenen Schauspieler des jugoslawischen Kinos, führt uns diesen Täter vor. Abgründig, knorrig gibt er uns einen Menschen preis, der nichts von sich verraten will, weil er sich von Verrätern umgeben sieht.

Der Opferlogik folgt die Täterlogik

Man will dem georgischen Regisseur Bakur Bakuradze nur zu gern vorwerfen, dass er uns nichts von den Verbrechen von Dejan Stanic erfahren lässt. Aber ihn interessieren nicht die Schicksale seiner Opfer. Er zeigt in seinen Bildern nicht einmal wirklich Mitleid mit seinem Täter. Er zerrt ihn einfach nur erbarmungslos nahe vor die Kamera.

Er macht uns auf horrible Art darauf aufmerksam, wie abgestumpft wir die Bilder der Ohnmächtigen bereits verbuchen: Indem er uns das Los eines Mächtigen vorführt, der – von den anderen Mächtigen im Stich gelassen – langsam zum Ohnmächtigen wird. Das verkehrt den Opferbegriff. Das macht Ohnmacht zur Provokation. 

General Stanic gehört nicht zu den namenlosen Opfern, die fliehen müssen. Er gehört zu den namhaften Tätern, die nicht belangt werden. Die einzige Hoffnung seiner Frau, die er nicht sehen darf, besteht darin, dass ihr Mann für tot erklärt wird, um endlich jene Vergessenheit zu geniessen, unter der seine Opfer tausendfach leiden.

Während Europas Flüchtlings-Hochkommissare beschliessen, Flüchtlinge vom Balkan seien nicht mehr als Verfolgte zu betrachten, ist Brat (Bruder) Dejan seit zehn Jahren untergetaucht. Er fürchtet, dass die Belgrader Politiker ihn, ihren ehemaligen Kriegsherrn, aus dem Boot schubsen.

Tatsächlich lässt der Greis nie den Finger vom Abzug. Aus Angst, die Vergangenheit könnte an die Tür klopfen, lebt Stanic wie ein Nahtoter. Ein sozial völlig verarmter mächtiger Täter wird zu einem Sans-Papiers. Allein, von niemandem erkannt, nur von einem engsten Vertrauten betreut, bleibt ihm eine Hoffnung: ein Leben als Toter.

Wie wenige Generäle braucht es, um Millionen in die Flucht zu treiben?

Der Regisseur Bakuradze zieht uns mit seinem hypernaturalistischen Geduldsfaden aber nicht grundlos durch den tief deprimierenden Hinterwald Serbiens. Jede seiner Einstellungen wird minutenlang zelebriert. Darin spielt der umwerfende Nikolic eine grausame, unerbittliche Leere. Und der Film erbarmungslos mit unserer Geduld.

Ohne die verblüffenden dokumentarischen Einschübe, die das Einüben von Hinrichtung und Tod des Generals protokollieren, wäre der Film tatsächlich langweilig und langfädig. So aber schimmert eine viel erschreckendere Wirklichkeit aus dem Artefakt: Dieser General ist kein Einzeltäter. «Brat Dejan» hat viele Brüder, die im Irak-, Afghanistan-, Syrien-, Tschetschenien- und Ukraine-Krieg Millionen in die Flucht getrieben haben.

Wenn die Flucht des Scheintoten ein Ende findet, wird im Vordergrund ein braver Ochse von der Weide geführt. Auch hier schimmert eine erschreckende Wirklichkeit durch. Die Vergangenheit holt nur sehr selten einen General ein – einen einzigen dürfen wir sehen.

Beispiel 3: Lampedusa 1831

Der dritte, kleine, Film, der noch hinterhältiger über die Flüchtlingsfrage nachdenkt, soll hier – zwischen dem Opfer-Film und dem Täter-Film – nicht unerwähnt bleiben. Der Kurzfilm «Lampedusa». Das Regieteam Philip Cartelli und Mariangela Ciccarello collagiert in halbdokumentarischen Einstellungen einen Kunstfilm zu einem ganz anderen Lampedusa-Bild:



«Lampedusa», eine Insel die alle Europäer haben wollten.

«Lampedusa» – eine Insel, die alle Europäer haben wollten.

Auch hier ist der Titel Programm. Aber die Italiener nähern sich der Rettungsinsel von der explosiven Seite. 1831 erhob sich bei einem vulkanischen Ausbruch eine kleine Insel vor der Insel aus dem Meer.

Britanniens Mächtige waren an dem Neuland mächtig interessiert. Das Königreich liess sogar seine Fahne auf der heutigen Flüchtlingsinsel hissen. Dem französischen Bürger-Kaiser wurde ebenfalls die Besitznahme einer neuen französischen Kolonie im Mittelmeer berichtet. Die Insel war bei den Mächtigen Europas hoch im Kurs.

Nicht arme Schlucker nahmen Kurs auf diese neue Insel, reiche Schlucker waren es. Doch die Insel rächte sich auf ihre Weise: Nach einem halben Jahr hatte sie genug. Sie verschwand wieder, wo sie hergekommen war. Das Mittelmeer verschluckte sie.

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