Wanderpause – zu Monis Feriensschluss fahren wir nach London, tummeln uns in der Stadt und besuchen einen Feund.
In Aldermaston haben wir in einer gepflegten Pension übernachtet, sind früh aufgebrochen, die Autobahn bald dreispurig, die Wanderschuhe liegen geputzt und gewichst hinter dem Sitz, der gemietete Ford rast hinter Lastwagen, Personenwagen. Moni überholt, überholt immer häufiger, bleibt auf der dritten Spur, rechts oben ziehen die Flugzeuge tiefe Kurven und auch auf der Überholspur wird es eng. Mit gedrosseltem Tempo, unvermittelt stärker auf dem Brems- als auf dem Gaspedal und noch siebzehn Meilen bis London.
Wir haben die weiten Ebenen, die von immergleichen Hecken durchzogene, in riesige Rechtecke unterteilte Ebene, verlassen, Strassen zweigen ab, Industriegelände tut sich auf, an den Rändern umsäumt von wertlos gewordenen Maschinenteilen, Autowracks, Schutt, Abfall. Die Landschaft hinter uns, die Stadt vor uns und die bange Frage: Finden wir das Avis-Center? Können wir das Auto bald abgeben?
Wir können. Wir finden das Center, und die Frau am Schalter gibt uns Tipps, wo wir ein günstiges Hotel finden. Plötzlich wieder den schweren Rucksack am Rücken, nicht einen footpath vor uns, aber Häuser, Häuser, Strassen, Verkehr, Ampeln, Lärm: London. Wir sind in der Nähe von Earls Court gelandet, die Häuser nicht hoch, Backstein auch hier, die Strassen weit, breit und lang. Fragen im ersten Hotel nach – eine Absteige für dreissig Pfund. Aber so doch nicht! Nicht das WC im Gang stört uns, oder die Dusche. Der Dreck! Die schräg hängenden Fenster, die abgelöschten Gesichter der Gäste. Wir überqueren die Strasse, mieten uns zu annehmbaren Preis bei Arabern ein, schliessen die Tür hinter uns: Welcher Lärm. Stadt! London!
Stadttouristen, was sie halt so tun
Drei Tage London vor uns. Drei Tage in der Hauptstadt des Landes, durch das ich bald vier Wochen gewandert bin und es noch eine Woche tun werde. Monika schaltet schneller um, organisiert die U-Bahn-Tickets – wir fahren, wie es naive Touristen nun halt tun, zum Picadilly-Circus, stechen erst mal in ein Pub, bestellen ein Glas Wein, eine Portion Chips, schauen Time-out an. Vor uns nichts als Rundgänge, Umgänge, ein paar Souvenirs für Monis Kinder und den Enkel.
So viel Hektik plötzlich: Trafalguar Square, Nelson, Thames, die Busse, die Cabs, die Bankers. Wir schlendern, erstaunt, sehen auch, wie London bei allen Eigenheiten halt auch globalisiert ist, teilweise eine Stadt ist wie so viele andere. Die Globalisierung hat sie alle ein bisschen ähnlich gemacht, die gleichen Filme wie in Zürich, Paris, die gleichen Auslagen in den Schaufenstern, Starbucks hier, Pizza dort.
Und ganz langsam entdecken wir das andere: Die Backstein-Architektur, den Fluss, in den noch das Meer hineinzeiht mit den Kranen dort weit unten, die Männer in Anzügen und Krawatten, mehr als anderswo, stärker durch alle Generationen hindurch krawattiert, aber weniger als Statussymbol, eher als Uniform, darum lockerer, nonchalanter getragen. Wenig öffentliche Armut in der Innenstadt, die grösser ist als anderswo, rötlich-grau, Backstein und Russ, unprätentiös und wenig Eleganz, aber Freundlichkeit und Gelassenheit trotz aller Hektik.
Tate Modern, Soho und Happy Hour
Es zieht uns ins Tate Modern, Picasso und Matisse ausverkauft, die freie Ausstellung grossartig, erdrückend die Breite der Werke, wir staunen uns durch, bewundern das Gebäude, die Ausblicke auf die Stadt jenseits der Thames. Beeindruckend gebaut, aber bereits bröckelnd, die filigrane Brücke ein kleines Kunstwerk, offenbar – wie wir später erfahren – erst seit kurzem wieder eröffnet, nachdem mühsam Statikprobleme behoben werden mussten. Ein Spaziergang durch Soho, Happy Hour, die Pubs gestossen voll, man trifft sich, gelassene Heiterkeit, Geschwätz, Gelächter, kleine spontane Feiern – und plötzlich sind die Beizen leer. Alle drängen zum Aufbruch, heimwärts, Dinnerzeit. Wir suchen ein chinesisches Restaurant auf, es ist teuer, die Leute, die hier verkehren, müssen recht gut verdienen.
Und so der zweite Tag: Regent-Street, Oxford-Street, wir sitzen in Pubs, sitzen an den Tischchen auf der Strasse, bewundern fröstelnd die Engländer: In steifer Bise in die Jacken geschlungen schauen wir zu, wie sie jede regenfreie Minute nutzen, sich die Jacken und Pullover auszuziehen, um die paar Sonnenstrahlen zu geniessen.
Ein Besuch in Balahm
Dann die Fahrt nach Balahm zu Stefan Howald, einem alten Freund aus Tages-Anzeiger-Zeiten. Vor zehn Jahren hat er seine Stelle als Kulturredaktor aufgegeben, ist nach London gezogen und lebt hier als freier Journalist. Er wohnt, wie er sagt, noch sehr im Zentrum von London, doch die Zugsfahrt dauert eine Viertelstunde. Er holt uns vom Bahnhof ab, begleitet uns durch die Einfamilien-Backsteinhäuser-Zeile zu seinem Heim, schön und schlicht, auf kontinenal-europäische Weise gediegen. Die Wohnung besticht durch ihre Schlichtheit, keine Blumen auf Tapeten, überhaupt keine Tapeten, einfach gestrichene Wände, kein Firlefanz, wenig Möbel – ein Aufatmen nach so viel B&B-Wohnungen in Schottland, England und Wales.
Stefan erzählt von den hohen Hauspreisen und Mietzinsen, von den recht hohen Löhnen in London, die noch aus der noch gar nicht so lange vergangenen Zeit des Dotcom-Hypes nachklingen, als die Banken im Gefolge der rekordhohen Börsen-Flüge jegliches Mass an Gewinnen und Löhnen verloren. Die Zeiten sind vorbei, aber die Preise sind noch immer hoch. Viele Leute leben auf Pump. Wer wenig verdient, muss auswärts wohnen, weit auswärts: Er wohnt zwar in London, fährt aber dreiviertel Stunden lang in die Stadt zur Arbeit und ebenso lang wieder zurück. Schlechtverdienende müssen sich durchschlagen, die Armut versuchen auch sie zu verstecken.
Der öffentliche Verkehr: Ein Chaos, nicht nur die Züge aufs Land, auch die U-Bahnen. Stefan wundert sich, dass die grossen Firmen in der Stadt nicht längst schon mehr Druck machen – sie verlieren Unsummen von Zeit und Geld mit ihren Angestellten, die immer mit grosser Verspätung zur Abeit kommen. Gewiss, mit der Privatisierung hätten einige Bahngesellschaften auf einigen Linien etwas Geld verdient, viel sogar. Aber die Privatisierung habe letztlich doch mehr Verlierer hinterlassen, auch in anderen Bereichen. Das schlage auf alle Gebiete durch: Schulen, Gesundheitswesen, das zwar recht gute Grundversorgung biete, aber alles darüber Hinausgehende sei nur für Wohlhabende einigermassen zahlbar. Und wir reden und schwatzen, auch über die Einsamkeit des Korrespondenten, des freien Journalisten im besonderen. Ich denke ein bisschen daran, dass mir in wenigen Monaten Ähnliches in Paris blühe.
Carlino oder: Stuart Hood
Stefan erzählt von seiner letzten grösseren Arbeit. Er hat das Buch «Carlino» des britischen Offiziers Stuart Hood ins Deutsche übersetzt. Hood wurde im September 1943 aus einem Kriegsgefangenenlager in Norditalien, in der Nähe von Parma, entlassen. Er will sich dem italienischen Widerstand in der Toskana anschliessen und schlägt sich durch den Apennin von Bauernhof zu Bauernhof durch. Stefan Howald hat den 87-Jährigen Ex-Offizier getroffen, hat sich ausgiebig mit seinem Leben und Werk auseinadergesetzt und hat die Übersetungsarbeit soeben abgeschlossen. Wenn ich zurück in der Schweiz sei, sagt Stefan, sei das Buch wahrscheinlich auf dem Markt.
Schmerzhafter Abschied
Und dann kommt der Samstag: Wir räumen das Hotelzimmer, ein paar letzte Kommissionen, Gepäck schultern, in der U-Bahn zur Victoria-Station: Ein Abschied, der weh tut. Ohne Drama, in seiner Bestimmtheit aber schmerzhaft. Begleite Moni zum Zug, wir haben noch etwas gegessen, haben uns umarmt – und dann bin ich gegangen. Zur U-Bahn zurück: Waterloo. War das jetzt eigentlich unsere Abschiedsreise?
Als Monika in Gatwick abhob, sass ich bereits im Zug – dorthin, wo wir hergekommen sind. In Salisbury stieg ich aus. Habe ein Hotelzimmer genommen. Schnell die sehr, sehr schöne und eindrückliche gotische Kathedrale besucht. Wieder auf dem Land. Wieder allein. Ziemlich allein.
(London, 25. Mai 2002)