Bettina Oberli hat mit «Herbstzeitlose» einen der erfolgreichsten Schweizer Filme der letzten Jahre gedreht. In Basel hat sie eine bestechende Bühnenadaption von «Anna Karenina» vorgestellt. Jetzt kommt sie mit «Lovely Louise» in die Kinos.
André bastelt Modellflugzeuge. Er wohnt bei seiner alleinerziehenden Mutter. Doch dann verliebt er sich in Steffi, die Wurstverkäuferin. Das könnte jetzt eine melancholische Liebesgeschichte werden. Doch André ist 55 Jahre alt. Seine Mutter ist 80. Ein Spezialfall also für Bettina Oberli. Sie hat mit «Herbstzeitlose» bereits einmal den federleichten Komödienton der Grossmütter getroffen. Sie hat gezeigt, wie genau sie auch die ältere Generation lesen kann.
Mit Nina Proll, Stefan Kurt und Annemarie Düringer hat Oberli für «Lovely Louise» eine fantastische Besetzung. Kurt kann seinem wunderbar scheuen Vorstadt-Taxifahrer weit über das Gesagte hinaus Geheimnisse verleihen. Annemarie Düringer kennen wir (auch von der Bühne) von ihren fein ziselierten Figurenzeichnungen (unter anderem in den Gotthelf-Verfilmungen von Franz Schnyder). Nina Proll spielt das Zünglein an der Waage. Keiner aus diesem Trio bräuchte viel Text, um seine Figur vielsagend werden zu lassen. Doch so richtig will das Drehbuch von «Lovely Louise» das nicht zulassen.
Die Geheimnisse einer Familie
Dabei ist die Geschichte schön geheimnisträchtig: Als ein Unbekannter bei Mutter und Sohn zu Besuch kommt, lässt er plötzlich die ganze Vergangenheit der Mutter in einem neuen Licht erscheinen. Erst erkennt der Sohn, dann der Besucher, und – zu bald – auch wir (weil es uns gesagt wird), dass die Vergangenheit eine andere ist. Stanley Townsend darf als Gast wie ein Elephant in den Porzellanladen der Wahrheit ans Licht verhelfen. Jetzt sieht die Mutter-Sohn Beziehung auf einen Schlag ganz anders aus, und auch Andrés Liebesgeschichte kommt ins Straucheln.
Das ist federleicht erzählt und kunstsinnig bebildert. «Lovely Louise» ist mehr als eine leise Komödie. Es ist auch ein Enthüllungsdrama. Wenn ein Sohn mit 55 Jahren noch bei seiner Mutter wohnt, fehlen Mutter und Sohn nicht nur die Worte, sich zu erklären. Doch eben diese Erklärungen kommen im Drehbuch immer wieder zur Sprache.
«Lovely Louise» zeigt wohl ein engmaschiges Netz von Schuldgefühlen, in das Sohn und Mutter sich verstricken – doch erklären sich die Figuren so deutlich, dass die Nähe, in die Bettina Oberli uns kommen lässt, manchmal fast grob wirkt. Als hätte Oberli der Wirkung ihrer Geschichte nicht ganz getraut.
Oberli auf der Suche nach ihrer Sprache
Gleich in den ersten Begegnungen lüftet zum Beispiel der Besucher aus USA sein Geheimnis. Selbst die Lügen der selbstherrlichen Mutter werden dadurch nur zu ungenügenden Geheimnisträgern. Nur ganz selten dürfen wir auf den Projektionsflächen der Gesichter auf Entdeckung gehen. Meist sind die Geheimnisse ohnehin schon gelüftet.
George Tabori hat einmal seine Lieblingsbeschäftigung zur Entspannung das «Fernsehschauen mit abgeschaltetem Ton genannt». Ich würde fast wetten, wir würden in den Gesichtern der Figuren ohne Ton mehr lesen können, als uns deren Offenbarungs-Texte immer wieder verraten wollen, gerade weil Oberli ihre Dialoge gekonnt in erzählstarke Bilder bettet – wie das Schwebenlassen der Mutter im Schwimmbecken oder Andrés Befreiungstanz unter der Flugzeugwolke.
Der Film unterliegt dem Drehbuch
Man muss dem Drehbuch vorwerfen, dass es die Figuren ihre Geheimnisse verraten lässt, dass es die Story leicht durchschaubar macht. Da die Regisseurin aber selber auch Co-Drehbuchautorin ist, ist die Erklärung zu einfach. Vielleicht kommt hier eine andere Beschwernis an den Tag, die in der Projektfinanzierung liegen mag.
Für die Geldsuche ist auch eine bewährte Filmemacherin wie Bettina Oberli auf Gelder von Gremien angewiesen. Dort muss sie Drehbücher einreichen. Danach werden ihre Filmeprojekte beurteilt – und finanziert. Für die Finanzierung muss alles schon ausgetextet sein, was zwischen den Zeilen einem Film durch Schauspieler und Bilder erst zu seiner narrativen Kraft verhilft.
Das zwingt Filmemacherinnen dazu, Drehbücher zu schreiben, in denen alles gesagt ist. Was Film kann, was Schauspieler können, was die Regie im Zusammendenken mit Musik und Ton und Text kann, wird dadurch leicht zugedichtet. Film darf viel mehr als nur ein Drehbuch sein. Was die hochklassigen Schauspielerinnen und die Regie ohne Worte erzählen könnten, ahnen wir in «Lovely Louise» immer wieder. Kurt lässt es pausenlos aufblitzen und kann deshalb auch gut darauf verzichten, «ein talentierter Verkäufer meiner Selbst» zu sein, wie er im Interview mit der TagesWoche sagte. Düringer liefert ein bestechendes Porträt von unerfüllten Bühnenträumen ihrer Figur. Oberli schafft Raum für kleine Gesten und grosse Bilder. Und letztlich ist der Film auch von dieser leibevollen, leisen Komik getragen.
Ein Film der uns die Schauspieler ans Herz legt
Bettina Oberli mag bei den Dreharbeiten im letzten Jahr geahnt haben, dass sie in der Arbeit mit Schauspielern noch reiche Impulse für ihre weiteren Filme erhält. Sie hat sich auch folgerichtig im Frühjahr für eine Arbeit mit Schauspielern und eine Theaterinszenierung von «Anna Karenina» entschieden – in Basel: In der fein gesponnenen epischen Psychologie Tolstojs hat sie im Basler Theater einen grossen Autor und einen Bruder im mimetischen Erzählen gefunden. In «Lovely Louise» musste sie auf den grossen Autor verzichten. Auf die Schauspielerinnen und Schauspieler nicht.
Der Film läuft zurzeit unter anderem in Basel in den Kult-Kinos.