Das Theater Basel beabsichtigt, die Grenzen zwischen der bildenden und der darstellenden Kunst zu überwinden. Das Theaterfestival Basel macht das bereits vor.
Es war eine überaus beklemmende Atmosphäre, die den Besuchern vor zwei Jahren im Wiener Völkerkundemuseum entgegenschlug. In den Vitrinen befanden sich keine exotischen Masken und Kostüme aus den ehemaligen europäischen Kolonien, sondern echte Menschen aus Namibia – und afrikanische Asylbewerber von heute. Man sah sich einem Menschenzoo gegenüber, der an die rassistischen Völkerschauen vergangener Zeiten erinnerte, vor allem aber auch an die Tatsache, dass die ehemalige Kolonialmacht die Urbevölkerung Namibias beinahe ausgerottet hatte. «Exhibit A: Deutsch-Südwestafrika» lautete der Titel der Produktion des Südafrikaners Brett Bailey und seiner Produktionsgemeinschaft «Third World Bunfight» an den Wiener Festwochen 2010.
Grenzgänger zwischen Sparten
Die Wiener Festwochen sind ein Festival für Musiktheater und Schauspiel. Ein Theaterabend war «Exhibit A» aber nicht wirklich, denn die eigentliche Handlung hinter den dreidimensionalen Bildern aus Fleisch und Blut spielte sich nur in den Köpfen des Publikums ab. Der Begriff «Installation», den die Veranstalter gebrauchten, passt da schon besser. Die Fachzeitschrift «Theater der Zeit» bezeichnet Bailey denn auch als «Installations- und Performancekünstler» sowie als «Grenzgänger zwischen Bühne und bildender Kunst» und zitiert ihn mit den Worten: «Ich bevorzuge Installationen, Bilder und verzichte auf die Erzählung der eigentlichen Handlung.»
Auch wenn der bekennende Theaterskeptiker Bailey jetzt in der Basler Kaserne mit einem Bühnenprojekt präsent sein wird (mit einer musikalischen Aufbereitung des Stücks «medEia» des niederländischen Dramatikers Oscar van Woensel): Sein Wirken zwischen darstellender und bildender Kunst ist sinnbildlich für das Programm des wiederbelebten Theaterfestivals. So ist eine Mehrheit der Produktionen, die im Programm zwar oft als «Theater» und «Tanz» bezeichnet werden, in diesem Grenzbereich anzusiedeln.
Besonders deutlich wird dies bei der Outdoor-Performance «above under inbetween» der Compagnie des österreichischen Stadtinterventionisten Willy Dorner: einem «skulpturalen Dialog zwischen sieben Performern und den Einrichtungsgegenständen einer Wohnung», wie der Kopf der faszinierenden Truppe sagt. Oder bei «Nowhere and Everywhere at the Same Time», einer Rauminstallation mit einem Pendel-Wald und einem Tänzer von William Forsythe, bei der das Publikum wie in einem Museum herumwandeln, rein- und wieder rausgehen kann.
Damit sind längst nicht alle Festivalproduktionen aufgezählt, die den gängigen Rahmen der darstellenden Künste sprengen. In der Eröffnungsproduktion «Sans Objet» der Cie. 111 spielt ein ausgedienter Industrieroboter die Hauptrolle. In seinem Doppelabend «Montage for Three & Not About Everything» stellt der belgische Choreograf und Tänzer Daniel Linehan mit seiner Bühnenpartnerin unter anderem Motive alter Fotografien nach.
Installationen und Street Art
Der britische Choreograf Russel Maliphant wiederum lässt seine Tänzerinnen und Tänzer in «The Rodin Project» das einzigartige Schaffen des berühmten französischen Bildhauers nachzeichnen. Und in «Before Your Very Eyes» bekommt man einen Container voller echter Kinder vorgesetzt, die ihr Publikum durch die Spiegelglasscheibe nicht sehen können.
Die Liste ist lang, mit Aktionen des ägyptischen Künstlers Ganzeer und des Japaners Noriyuki Kiguchi sind gar zwei Programmpunkte klar als «Street Art» oder Kunstinstallation erkennbar. Unter dem Strich lassen sich von den 18 Festivalproduktionen die wenigsten in die gängige Theaterschublade stecken, ohne dass sie dabei anecken.
Ausdrücklich nach interdisziplinären Projekten gesucht habe sie nicht, sagt die künstlerische Leiterin des Festivals, Carena Schlewitt. «Aber heute ist es selbstverständlich, dass bildende Künstler im Theater arbeiten und sich umgekehrt die Museen Theater und Tanz in ihr Haus holen.»
Auch im regulären Programm der Kaserne hat man sich daran gewöhnt, dass die Grenzen zwischen den Sparten nicht mehr so klar zu ziehen sind. Der junge Basler Theatermacher Marcel Schwald fühlt sich in der Kunstperformance ebenso zu Hause wie im Theater. Die Basler Band The bianca Story hat genreübergreifende Aktionen zwischen Musik und Kunst sowie Theater zum Markenzeichen erkoren. Und bei Produktionen von Zimmermann & de Perrot landet man stets im Grenzbereich zwischen den Künsten. «Theater war schon immer eine Kunstform, die sehr viele Künste in sich vereint, in erster Linie natürlich Literatur, Musik und Bild», sagt Schlewitt. «Das soll aber nicht heissen, dass interdisziplinäre Projekte per se besser sind als das sogenannte literarische Theater.»
Lange Tradition
Die Idee ist nicht neu: Bereits in der Romantik im 18. Jahrhundert entstand die Idee, mit dem Gesamtkunstwerk die verschiedenen Künste zu vereinen, eine Idee, der sich später vor allem Richard Wagner, aber auch Rudolf Steiner äusserst zugetan fühlten. Die Überwindung der Grenzen zwischen Theater und bildender Kunst war auch eine der wichtigen Zielsetzungen der Avantgarde. Das 1922 uraufgeführte «Triadische Ballett» des Bauhaus-Künslers Oskar Schlemmer ist eine Ikone der Kunstgeschichte des 20. Jahr-hunderts. Der russische Choreograf Sergej Djagilew konnte in den 1920er-Jahren die halbe Ecole de Paris als Ausstatter seiner Ballets Russes gewinnen (von Braque über Matisse bis Picasso).
Später arbeitete der US-amerikanische Choreograf Merce Cunningham mit John Cage, Robert Rauschenberg und Jasper Johns zusammen. Und auch Jean Tinguelys Hang zum Theatralischen ist hinlänglich bekannt: Im Museum, das ihm zu Ehren in Basel steht, ist derzeit auch das Werk des russischen Avantgardekünstlers Vladimir Tatlin zu sehen, der sich ebenfalls leidenschaftlich im und für das Theater engagiert hat.
Auch im institutionellen Theater werden Grenzen abgebaut. So erregte etwa an der letzten Art Basel ein interdisziplinäres Spektakel viel Aufmerksamkeit: «The Life and Death of Marina Abramovic» mit und über die gleichnamige Ikone der Performancekunst. «Die Grenzen zwischen den Sparten verwischen sich mehr und mehr», sagte Theaterdirektor Georges Delnon bereits an der Spielplan-Konferenz im Mai. «Uns interessieren vor allem die Schnittpunkte und Schnittmengen.» Dass dieses Interesse ernst gemeint ist, zeigt die Tatsache, dass das Theater Basel mit Stephanie Gräve neu eine Beauftragte für interdisziplinäre Projekte hinzugezogen hat, die als stellvertretende künstlerische Direktorin in der Hierarchie dieser Institution weit oben steht.
Das Theaterfestival Basel dauert noch bis 9. September. Auf www.tageswoche.ch begleiten wir das Festival.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 31.08.12