Marcel Hirscher nimmt beim Weltcup-Finale in Aspen die grosse und zwei kleine Kristallkugeln in Empfang. Für ihn endet in Colorado eine traumhafte Saison. Im Zenit sieht er sich noch nicht.
Auch in Aspen hält der Frühling Einzug. Marcel Hirscher bittet am Swimmingpool zum Interview. Zeit für den Salzburger, auf den zu Ende gehenden Winter zurückzublicken und vorauszuschauen. Zeit eigentlich auch zu realisieren, dass er mit dem sechsten Gesamtsieg Historisches geschafft hat. Mit der Einordnung des Rekords tue er sich aber weiterhin schwer, sagt er.
Hirscher, der auch als Weltcupsieger im Riesenslalom und im Slalom feststeht, äussert sich unter anderem über seine Zeit an der WM in St. Moritz, die trotz zwei Gold- und einer Silbermedaille nicht nur einfach war. Er spricht zudem über das beiseite gelegte Abfahrts-Projekt und nimmt Stellung zu den künftigen Riesenslalom-Ski, die einen Radius von 30 statt bisher 35 Metern zulassen.
Marcel Hirscher, Sie sagen, dass es Ihnen nach wie vor schwer fällt nachzuvollziehen, was Sie mit dem sechsten Sieg im Gesamtweltcup geleistet haben.
«Richtig realisieren werde ich das wohl erst nach dem Ende meiner Karriere. Wenn ich mit meiner Familie und den Trainern über gewisse Rennen spreche, merke ich aber schon, dass in diesem Jahr mächtig viel abgegangen ist. Da waren einzelne Rennen dabei, die einfach nur gut waren. Oder ganze Serien. Der Januar war top, die WM auch.»
Trotz der Fülle von Ereignissen – gab es Momente, die herausragten?
«Der zweite Slalom-Lauf in Kitzbühel etwa. Das ist etwas, was ewig bleibt. Da weiss ich, dass ich mir das in fünf Jahren immer noch anschauen werde. Der Kampf mit Henrik (Kristoffersen) im Allgemeinen war in diesem Winter sehr spannend, nervenaufreibend und hat mich ans Äusserste gebracht, was das Slalomfahren betrifft. Das sind Dinge, die einem unglaublich viel zurückgeben.»
Auch an der WM in St. Moritz haben Sie sehr viel zurückerhalten.
«Die WM hätte nicht besser laufen können. Kritisch betrachtet, war vieles sehr schwierig in St. Moritz. Aber das Endergebnis war natürlich ‚mega‘.»
Welche Schwierigkeiten sprechen Sie an?
«Es war schwierig, in der Abfahrt einen Weg zu finden. Der Super-G war viel, viel schneller als erhofft. Das Silber in der Kombination war eine unerwartete Medaille. Ich hatte mir ernsthaft überlegt, nicht zu starten. Da waren die Magen-Darm-Probleme, die viel Substanz gekostet haben. Oder das ganze Drumherum, auf das ich nicht mehr näher eingehen möchte.»
Zurück zu Henrik Kristoffersen. Brauchen Sie Konkurrenten wie ihn, um top zu sein?
«Auf jeden Fall. Ehrlich, ich bin manchmal ein fauler Mensch. Wenn ich nichts tun will, dann tu ich nichts. Wenn ich aber muss, dann tue ich viel. Zu Beginn der Saison hatte ich auf die Besten aufzuholen. Da steckte viel Arbeit dahinter. Wenn man dann merkt, dass man besser wird, ist das ein sehr gutes Gefühl.»
Vor allem in Ihrem Heimatland ist ein möglicher Rücktritt von Ihnen fast schon ein Dauerthema. Gibt es für Sie den perfekten Zeitpunkt, um aufzuhören?
«Wenn ich heute sagen würde ‚das wars‘, dann würde ich auf dem absoluten Höhepunkt aufhören. Das würde dann ewig so stehen bleiben. Wenn ich nächstes Jahr den Gesamtweltcup nicht mehr gewinne und zurücktrete, dann heisst es ‚jetzt hört er auf, weil er nur noch Zweiter geworden ist‘. Der Wunsch wäre natürlich schon, auf dem ‚Peak‘ abzutreten.»
Sie selber sehen sich nach wie vor nicht im Zenit Ihrer Leistungsfähigkeit?
«Nein. Sonst wäre es an der Zeit aufzuhören. Wenn ich mir eingestehen müsste, mich nicht mehr steigern zu können, wäre es besser, etwas anderes zu tun. Ich will mich weiter verbessern. Sonst macht das Ganze keinen Sinn.»
Sind all die Siege und Titel Ihr Antrieb oder geht es nur um die Leistung?
«Es geht mir nur um die Leistung. Das andere kommt von selbst.»
Das Thema «Abfahrer» haben Sie ad acta gelegt.
«Ich merke einfach, dass es unglaublich viel Zeit und Training benötigen würde, um komplett umzustellen. Zudem hätte sich die Frage gestellt, ob ich mir jemals den notwendigen Speed aneignen könnte.»
Noch vor zwei, drei Jahren hat es bei Ihnen betreffend möglichen Wechsel in den Speed-Bereich anders getönt. Was hat Sie zum Umdenken bewogen?
«Dieses Jahr in Garmisch war so ein Moment. (In der ersten Abfahrt hatte es mehrere Stürze mit Verletzungsfolge gegeben, Red.) Da denke ich dann schon, dass das für mich alles sinnlos ist.»
Hier in Aspen haben Sie in den letzten Tagen Riesenslalom und Slalom trainiert. Im Riesenslalom auch mit den neuen Ski?
«Die neuen Riesenslalom-Ski habe ich bei zwei Fahrten getestet. Für mich war es keine ‚Gaudi‘.»
Die Karten werden sozusagen wieder neu gemischt.
«Es ist für alle gleich. Es ist krass. Wieder beginnt alles bei Null. Alles, was ich in den letzten fünf Jahren gelernt oder an Erfahrung gesammelt habe, ist nichts mehr wert. Mit all den Notizen kann ich mir gleich ein Lagerfeuer anmachen.»
Die einen Fahrer werden besser vorbereitet sein als die anderen.
«Am Anfang wird es wieder sehr grosse Unterschiede geben. Der Spielraum ist gewaltig. Wer es auf Anhieb hinkriegt, hat einen immensen Vorteil. Für gewisse Fahrer wird es leichter sein, im Riesenslalom Fuss zu fassen, weil es technisch nicht mehr so anspruchsvoll und so komplex sein wird. Es wird ein anderes Skifahren sein.»