Bei der Personenfreizügigkeit mit Kroatien gibt es einen Marschhalt: Die Schweiz unterzeichnet das fertig verhandelte Abkommen nach dem hauchdünnen Ja zur SVP-Initiative «Gegen Masseneinwanderung» nicht. Parteienvertreter sind darob nicht überrascht.
Justizministerin Simonetta Sommaruga informierte die kroatische Aussenministerin Vesna Pusić am Telefon darüber, dass das entsprechende Protokoll in der derzeitigen Form nicht unterzeichnet werden könne. Dies teilte ein Sprecher des Justiz- und Polizeidepartements der Nachrichtenagentur sda mit.
Neue Verfassungsbestimmung direkt anwendbar
Im Gespräch ging es um die Folgen der Zuwanderungsinitiative sowie um nächste konkrete Schritte. Sommaruga erläuterte der kroatischen Ministerin unter anderem, dass eine neue Verfassungsbestimmung direkt anwendbar sei, wonach keine völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden dürften, die gegen den neuen Verfassungsartikel verstiessen.
Der Bundesrat prüfe nun Lösungen, die Kroatien nicht diskriminierten, erklärte der Sprecher des EJPD. Pusić habe die Informationen zur Kenntnis genommen und Sommaruga habe mit ihr weiteren engen und direkten Kontakt vereinbart.
EU-Kommission: Erläuterungen abwarten
Die EU-Kommission liess auf Anfrage der Nachrichtenagentur sda verlauten, sie verstehe, dass es «für die Schweiz schwierig» sei, das Abkommen zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien zu unterschreiben.
Bevor nun entschieden werde, wie es mit Dossiers wie etwa «Horizon 2020» oder «Erasmus+» weitergehen soll, die mit der Freizügigkeit verknüpft sind, wolle man zunächst Erläuterungen seitens der Schweiz abwarten, hiess es weiter.
Erste Klärungen könnte der kommende Donnerstag bringen: Dann sollte Staatssekretär Yves Rossier in Brüssel seinen Amtskollegen David O’Sullivan, Generaldirektor im Europäischen Auswärtigen Dienst der EU, treffen. Bundesrat Didier Burkhalter wird den Volksentscheid in Berlin erklären und Sommaruga plant eine Reise ans OSZE-Treffen in Wien.
Kroatien in Verhandlungen einbeziehen
In der schweizerischen Parteienlandschaft überrascht der Marschhalt mit Kroatien nicht sonderlich. Für FDP-Präsident Philipp Müller ist seit der Abstimmung «völlig klar, dass das mit Kroatien ausgehandelte Abkommen nicht ratifiziert werden kann». Und das, obwohl mit Kroatien eine gute Lösung ausgehandelt worden sei mit einem Übergangsregime von zehn Jahren.
Da Kroatien EU-Mitglied ist, werde das Land bei den Verhandlungen mit der EU über die Personenfreizügigkeit voll einbezogen werden müssen, stellte Müller klar. Alle 28 EU-Staaten müssten sowohl das Verhandlungsmandat als auch das Verhandlungsergebnis gutheissen.
Auch für CVP-Parteipräsident Christophe Darbellay ist der Entscheid des Bundesrates «logisch und keine Überraschung», wie er auf Anfrage sagte. Man könne mit Kroatien nicht etwas vereinbaren, was das Volk nicht wolle. «Wir müssen jetzt mit der EU eine neue Lösung finden.» Diese müsse dann auf Kroatien ausgedehnt werden.
Was das Volk allerdings genau will, ist schwierig zu erfassen: Eine Umfrage in der Woche nach der Abstimmung ergab, dass drei von vier Stimmberechtigten an den bilateralen Verträgen festhalten wollen. Nur 19 Prozent der Befragten sprachen sich in der Umfrage von Isopublic im Auftrag des «SonntagsBlick» für eine Kündigung der Verträge durch die Schweiz aus. 7 Prozent äusserten sich nicht.
Brunner rechnet mit Einwanderungswelle
SVP-Parteipräsident Toni Brunner fordert derweil ein rasches Tempo bei der Umsetzung der Initiative. Weil die volle Freizügigkeit mit den EU-Oststaaten im Juni beginnt und im Sommer 2016 Rumänien und Bulgarien folgen, rechnet er mit einer «massiven Einwanderungswelle», wie er im Interview mit der «Schweiz am Sonntag» sagte.
«Es ist in Ordnung, wenn der Bundesrat bis Ende Jahr einen Gesetzesentwurf ausarbeiten will», sagte Brunner. Doch an den Von-Wattenwyl-Gesprächen am Freitag habe er vorgeschlagen, schnellere Massnahmen zu prüfen. Fragen um die Kontingentierung könnten «auf dem Verordnungsweg sofort gelöst werden».
Levrat: Kündigung dem Volk vorlegen
SP-Präsident Christian Levrat ist der Ansicht, dass eine Kündigung der bilateralen Verträge von Schweizer Seite dem Volk vorgelegt werden müsste. «Das Volk muss dann wählen können zwischen der Umsetzung der Initiative und der Sicherung des bilateralen Wegs», sagte er im Interview mit der «SonntagsZeitung».
Doch auch wenn die Bilateralen nicht gekündigt werden müssten, droht der SP-Ständerat mit neuen Abstimmungen. Dann etwa, wenn das Saisonnierstatut wieder eingeführt oder die flankierenden Massnahmen in Frage gestellt werden sollten.