Fast eine Million Menschen hat in Brasilien bei den grössten Protesten seit Monaten die Ablösung von Präsidentin Dilma Rousseff gefordert.
Nach Angaben der Polizei gingen über 860’000 Menschen am Sonntag auf die Strasse, die meisten wurden in São Paulo gezählt. Allerdings schwankten die Angaben, das Institut Datafolha sprach hier von 135’000 Menschen. In über 100 Städten wurde gegen die ökonomische und politische Krise im fünftgrössten Land der Welt protestiert – vor allem gegen den grössten Korruptionsskandal der Geschichte, in den auch die regierende Arbeiterpartei verstrickt ist.
Es war bereits die dritte Protestwelle in diesem Jahr, sie erreichte aber nicht die Zahl von 1,7 Millionen Demonstranten wie Mitte März. Laut einer Umfrage sind 66 Prozent für ein Amtsenthebungsverfahren durch den Kongress zur Ablösung der linksgerichteten Präsidentin, obwohl Rousseff erst im Oktober 2014 für eine zweite Amtszeit gewählt worden war. Aber der Protest richtete sich auch gegen Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva, in der Hauptstadt Brasilia war eine riesige aufgeblasene Lula-Figur in gestreifter Häftlingsuniform zu sehen.
Bei überhöhten Vertragsabschlüssen für Bauaufträge sollen Politiker über Jahre Provisionen kassiert haben. Rousseff bestreitet jede Verwicklung. Das System soll einen Schaden von mehreren Milliarden Franken angerichtet haben. Dabei geht es im Kern um Geschäfte von Baukonzernen wie Odebrecht und dem grössten Unternehmen des Landes, Petrobras. Mehrere Top-Manager wurden festgenommen – sie müssen lange Haftstrafen fürchten, ebenso die darin verstrickten Politiker.
Politische Lähmung
Aber nicht nur die Arbeiterpartei ist in den Skandal verwickelt. Der der Annahme von fünf Millionen US-Dollar verdächtigte Eduardo Cunha, Präsident des Abgeordnetenhauses und führender Kopf ihres wichtigsten Koalitionspartners PMDB, fühlt sich wegen der Vorwürfe ungerecht behandelt und arbeitet gegen Rousseff. Das erschwert den Abschluss von Spar- und Reformmassnahmen – und sorgt für politische Lähmung.
In Rio demonstrierten tausende Menschen an der Copacabana. Einige Demonstranten trugen T-Shirts des Richters Sérgio Moro, der in dem «Lava Jato»-Skandal auch vor grossen Namen keinen Halt macht – und mit der Bundespolizei rigoros aufräumt. Rousseff berief wegen der Proteste eine Krisensitzung mit ihren engsten Ministern ein, um die Lage zu analysieren, berichtete die Agência Brasil. In Rio forderten Demonstranten auf Plakaten, Rousseff und Lula müssten ins Gefängnis. «Raus mit Dilma und der Arbeiterpartei», stand auf anderen Bannern.
Steigende Preise
Die Menschen sangen die Nationalhymne, schwenkten Brasilien-Flaggen, in Rio forderten einzelne Demonstranten ein Eingreifen des Militärs, um Rousseff aus dem Amt zu jagen, während sich direkt daneben Tausende lieber am Strand der Copacabana sonnten. Aufgerufen zu den Kundgebungen hatte unter anderem das Bündnis «Movimento Brasil Livre». Auch Vertreter der Mitte-Rechts-Opposition um den Rousseff 2014 unterlegenen Aécio Neves unterstützen die Proteste am Sonntag.
Viele Bürger sorgt neben der Korruptionsaffäre die hohe Inflation – sie kletterte im Juli auf fast zehn Prozent binnen eines Jahres. Dadurch ächzen viele Brasilianer unter steigenden Preisen. Gesunkene Rohstoffpreise schwächen die Wirtschaftsleistung, der Konsum ist eingebrochen. Viele Bürger fürchten um ihre Jobs. Bei einer weiteren Abwertung durch Ratingagenturen droht ein Abzug von Investoren.