Matildas Weg, 1. August 2002

Verlässliche Karten gibt es in diesem Gebiet keine mehr, dafür entdecke ich Matildas Weg und lerne sie und eine Busfahrerin kennen.

Ideal zum Herumirren – Hügelzüge westlich von Montefiorino. (Bild: Urs Buess)

Verlässliche Karten gibt es in diesem Gebiet keine mehr, dafür entdecke ich Matildas Weg und lerne sie und eine Busfahrerin kennen.

Um halb acht donnerte die Wirtin an die Tür. Sie hatte ein Problem: Mein Auto stand falsch, stand den Marktfahrern auf der Piazza unten im Weg. Beim Frühstück – Capuccino und vier Zwieback – war es ihr ein bisschen peinlich. Sie hatte gedacht, das könne nur mein Auto sein.

Sonst war es still im Speisesaal, die Alten waren längst wieder im Zimmer, die Tische bereits für den Mittag gedeckt. Eine schwangere Frau, wahrscheinlich der Wirtin Schwiegertochter, auch sie in einer Bluse aus dem Stoff der Armee-Kampfanzüge, fragte, ob es mir in diesen schweren Schuhen wohl sei. Ich sagte, ich beabsichtige, über die Hügel nach Montefiorino zu gehen und sie hielt das für absurd. Montefiorino liege in der Provinz Modena,  und kein Mensch gehe dorthin. Sie wusste eine Papetrie im Dorf, wo carte geografiche zu kaufen seien, doch der Herr dort hatte nur eine Norditalien-Karte. Immerhin wusste er, dass es im Gemeindehaus, in der Bibliothek, andere zu kaufen gebe.

Bibliothekar mit Mundgeruch

Der Bibliothekar von Casina bediente eine Frau und ihre Tochter. Sie brachten Comic-Videos zurück, wählten neue aus und achteten penetrant auf gebührenden Abstand zum Herrn hinter der Theke. Später merkte ich warum – der Bibliothekar hatte fürchterlichen Mundgeruch. Er verstand mein Anliegen sofort, zeigte mir Fünfundzwanzig-Tausender-Karten – doch aus einer ziemlich anderen Region. Auch die Fünfzig-Tausender war nicht von hier. Die Autokarte habe ich schon, und so schenkte er mir den Prospekt mit dem Matilden-Weg. Matilda von Canossa. Irgendwann heilig gesprochen aus einem Grund, den ich nicht herausfinden konnte. Den Weg war ich schon gestern gegangen, stellte ich fest, einige Ortschaften jedenfalls kannte ich, andere waren mir fremd, obwohl ich durchgegangen sein musste. Ein Pilgerweg jedenfalls, von Parma über Canossa, den Passo delle Radici nach Lucca. Ob ich da durch will, weiss ich noch nicht, aber immerhin stimmten eine Ortschaft auf der Karte und ein Wegweiser im Dorf miteinander überein: Croveglia, Borgo medievale.

Dorthin brach ich auf, einer leicht ansteigenden Strasse entlang, doch ich wär wahrscheinlich lieber nicht durchgegangen. Die Sonne lockte üppig süsse Düfte aus den Sträuchern und Kräutern am Strassenrand und auf den Wiesen, Bauern wendeten halbtrockenes Gras, alte Männer und Frauen streiften mit Plastiksäcken durch die Bäume und suchten Pilze. In der Nähe von Casina jedenfalls. Später war ich allein, kein Mensch weit und breit. Der Weg führte nach Giandeto. Doch dort wollte ich nicht hin. Weder auf dem Matilda-Prospekt noch auf meiner Karte gab es den Ort. Eine Familie aus irgendeiner Stadt hat sich ein Ferienhaus gemietet, liegt lesend und gelangweilt im Garten herum, und wahrscheinlich bin ich die erste Abwechslung seit langem. Sie stürzen sich auf mich und zeigen mir den Weg nach Croveglia.

Blonde Gräfin, deutsch/italienisch

Das mittelalterliche Dorf besteht im wesentlichen aus einem riesig prächtigen Gehöft. Ein paar Hunde kläffen, Ziegen wundern sich und eine sechzigjährige Frau lädt Steine auf eine Schubkarre. Ringsum Wald, und die Frau zeigt mir, wo es wahrscheinlich nach Carpineti gehen könnte. Dieser Weg, steil abwärts, könnte dorthin führen, es habe irgendwo im Wald eine Tafel, aber sie sei ihn noch nie gegangen. Die Tafel finde ich und sie sagt mir, dass ich auf dem Matilden-Weg sei. Matilda, erfahre ich, war gar keine Heilige, sondern eine blonde Gräfin deutsch-italienischer Herkunft, die im elften Jahrhundert über ein riesiges Gebiet von Brescia bis Modena und bis zum Mittelmeer geherrscht hat. Wahrscheinlich habe ich das mal in der Schule gelernt, vergessen und bin nun auf diesem Weg wieder auf sie gestossen.

Er führt mich nach Carpineti, wo wieder Matildes Tafel steht, daneben eine Bar mit Karten spielenden Männern, einer etwas forschen Wirtin und schrecklicher Pizza. Es geht wieder bergan zum Castel San Pietro, eine wunderbare, alles überragende Ruine, daneben ein kleiner Wegweiser: San Vitale. Eine der beiden Karten sagt mir, dass ich dort durch müsse, wenn ich nach Montefiorino gelangen wolle und ich gehe. Ein wunderbarer Weg durch dichten Wald. Ein Pilzsammler dämpft meine Freude und sagt, er würde an meiner Stelle umkehren, die Landstrasse aufsuchen und dort Richtung Ceredolo gehen. Ich nehme das zur Kenntnis und schreibe es seiner italienischen Verachtung für Wald- und Feldwege zu, dass er mir eine Teerstrasse empfiehlt. Der Weg ist herrlich, und später bestätigt mir eine weitere Pilzsammlerin, dass ich da durch dann irgendwann nach San Vitale käme. Italien, denke ich, hat schlechte Karten, keine Wegweiser, aber freundliche Pilzsammler.

Immer wieder auf dem gleichen Weg

Nur weisen sie ein bisschen im Zeugs herum. Es geht aufwärts, aufwärts, aufwärts und nach anderthalb Stunden grüsst mich wieder die Tafel: Es ist der Matildenweg, ich bin in San Vitale, bei einem Berghaus auf neunhundertdreiundsechzig Metern. Die Aussicht ist hervorragend und ich sehe auch, wo Ceredolo liegt. Hätte nur der Landstrasse entlang gehen müssen, dann säss ich dort längstens in der Bar und das heraufziehende Gewitter ginge mir am Hut vorbei.

Dann gibt es weder Tafeln noch Pilzsammler, aber um fünf ein Ortsschild – Montelago – das mir sagt, dass ich auch hierhin nicht wollte. Ich bin ziemlich im Kakao rumgewandert. Aber immerhin hat es eine Bushaltestelle, drei Busse fahren täglich. Zufälligerweise einer in zehn Minuten. Ich ziehe mich um, will nicht so verschwitzt einsteigen und bin dann ganz froh über diese kleine Toilette. Denn der Bus fährt vor, kein einziger Passagier, kein Chauffeur – sondern eine Fahrerin, kaum dreissig Jahre alt. Blond wie Matilde und sicher hübscher als sie.

Chauffeuse aus Leidenschaft

Ich habe kein Billett und sie sagt, ich verkauf dir eins und es fällt mir auf, dass sich die Leute duzen in dieser Gegend. Nun ja, es war eine anregende Fahrt im leeren Bus, und wir haben uns ganz gut unterhalten. Sie erzählt mir, dass sie drei Brüder habe, die in Reggio Emilia eine Autowerkstatt betrieben. Die Brüder liessen sie nicht im Betrieb arbeiten, aber sie liebe Motoren und Autos. Darum habe sie Busfahren gelernt und sei jetzt sehr zufrieden mit ihrer Arbeit. Sie versicherte mir auch folgendes: Wenn es jetzt einen Knall gäbe und der Motor wäre defekt, wäre sie imstande, auszusteigen, am Motor herumzudoktern und ihn zu flicken. Alleine, ohne Hilfe. Es gab aber keinen Knall, und das war auch gut so.

An einer Wegkreuzung mit einer trostlosen Bar stoppte sie und sagte, hier beginne leider die Provinz Modena. Da dürfe sie nicht rein, und sie fahre jetzt zurück nach Reggio. Sie sagte mir Ciao, winkte nochmals zurück und ich hab eine Weile an sie gedacht, wie sie da mit ihrem grossen Bus durch die Landschaft fährt, eine zierliche Frau, ihren Kaugummi bearbeitend und immer mit der einen Hand auf der Suche nach einem gefälligen Radiosender.

Busgespräche

Der Barmann glaubte zu wissen, dass ein Bus dorthin führe, wo ich eigentlich hätte hingehen wollen, nach Montefiorino. Aber die Bar stehe noch in der Provinz Parma, und er habe weder Tickets noch Abfahrtszeiten für Modena. Aber er sei ziemlich sicher, dass noch ein Pullmann komme. Zu Fuss wäre es noch eine gute Stunde gewesen, ich dachte, dass ich ein gutes Pensum heute schon gegangen sei, leider in den falschen Richtungen herum und wenn dann doch kein Pullmann käme, könnte ich auch im Schlafsack übernachten. Trank ein Glas Weissen und hatte Glück. Der Pullmann kam.

Ein Chauffeur und vier Passagiere, alle dicht gedrängt auf den vordersten Sitzen und in heftige Gespräche vertieft. Ein Billett hatte ich nicht. Ich solle doch mal hinsitzen, sagte der Chauffeur. Ich hörte zu, wie Chauffeur und Fahrgäste palaverten: über unterschiedliche Löhne in der Stadt und auf dem Land, über unterschiedliche Ansichten auch. Der eine sagte, seine Freunde in der Stadt verdienten zwar mehr, gäben aber auch mehr Geld aus, für Wohnung, Essen und so. Und wenn sie ihn besuchten, sähen sie die Schönheit der Landschaft nicht. Schauten an die Hügel, als ob sie Mauern wären. Und eine Frau sagte, das sei schon recht, aber ihr Sohn habe seit kurzem eine ragazza. In der Stadt könnte er sie jederzeit besuchen, hier aber sei es umständlich, von einem Dorf ins andere zu gehen. Das müsse man schon auch bedenken.

Der Chauffeur, einer von der Sorte, der überzeugt ist, dass ihm nicht so schnell einer das Wasser reiche, offenes Hemd, Goldkette, Pilotenbrille und die Kottelets nahtlos in den Kinnbart übergehend, er also sagt, Pilze gebe es in der Stadt nicht. Morgen habe er frei, und da hole er wieder Steinpilze und dazu die kleinen gelben. Mit Knoblauch und Öl – so sei’s am besten.

Wir kommen an in Montefiorino – ein wunderbares Dörfchen in diesen wild bewaldeten Apennin-Hügeln, so abgelegen auch. Hab kaum ausländische Autos gesehen bis jetzt. Alle steigen aus. Ich frage den Chauffeur, was ich jetzt schulde. Ach, sagt er, kümmere dich nicht drum und steig schon aus. Er zeigte mir ein Haus, in dem ich vielleicht ein Zimmer finden könne. Es war eine Art Pension, von aussen aber nicht als solche erkennbar. Ein sehr, sehr wortkarger Mann führte mich in den ersten Stock, sagte mir, hier könne ich schlafen, aber Schlüssel zur Züre habe er keine. Ich schaute zum Fenster hinaus. Das Dorf auf dem Hügel vis-à-vis kam mir sehr bekannt vor. Dort drüben, wenige Kilometer Luftlinie, war ich wahrscheinlich am Morgen gestartet. Und bin furchtbar im Kreis rumgeirrt.

(Montefiorino, 1. August 2002)

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