Das Sportmuseum zeigt an der Photo13 in Zürich Fotografien von Walter Scheiwiller (4. bis 8. Januar). Sie beeindrucken nicht nur durch ihre Kunstfertigkeit, sondern auch als Zeugnisse ihrer Zeit.
Wir sehen Hugo Koblet, wie er vor beeindruckendem Bergrelief den Flüelapass hinauf seinen Konkurrenten enteilt, auf dem Weg zu seinem ersten Sieg an der Tour de Suisse im Jahr 1950. Wir sehen den US-Amerikaner Bob Seagren, wie er sich, noch hängend in der Luft, 1966 auf Weltrekordhöhe im Stabhochsprung katapultieren wird. Wir sehen Meta Antenen, wie sie an den Schweizer Meisterschaften 1971 erst nach einem Flug über 6,81 Meter wieder Sand unter sich spürt.
Wir sehen es mit dem Auge und Apparat von Walter Scheiwiller, der von den vierziger bis in die achtziger Jahre als Fotograf gearbeitet hat und mit seinen Bildern Schweizer und internationale Sportgeschichte mitgeschrieben hat. Vor gut drei Jahren hat das in den beiden Basler Halbkantonen angesiedelte Sportmuseum Scheiwillers aus über 17’000 Einheiten bestehendes Archiv übernehmen können. Nun zeigt es an einer Sonderausstellung an der Messe Photo13 in Zürich vom 4. bis 8. Januar eine Auswahl dieser Fotografien.
Ein anderes Sehen
«Sehen sie hier, wie sich beim Start auf der Leichtathletikbahn die Asche aufwirbelt? Genau das wollte ich zeigen», sagt der 90-jährige Scheiwiller an der Vernissage am Donnerstagabend. Es ist ein anderes Sehen, als wir es heute gewohnt sind, eines für das Detail. Damals, als noch nicht in jedem Wohnzimmer ein Fernseher stand, geschweige denn die Slow-Motion die Aktionen der Sportler nachvollziehbar machte. Scheiwillers beeindruckende Fotografien zeigen, was von blossem Auge kaum festzustellen war. Sie frieren einen Moment ein und machten paradoxerweise erst so sichtbar, was Bewegung ist. Es war die Zeit, in der die scheinbare Magie der Fotografie darin bestand, dass sie die Wirklichkeit greifbar machte.
Natürlich hatte Scheiwiller nicht die Möglichkeit, Serien zu schiessen. Ein Weitsprung hiess: eine Chance auf ein gutes Bild. «Ich wusste immer sofort, ob es etwas wird», erinnert er sich. Scheiwiller gehört mit zur ersten Generation Sportfotografen, die nicht als Amateure begonnen haben. Er ging an die Kunstgewerbeschule und hat eine Fotografenlehre in St. Gallen gemacht. Mit der Professionalisierung des Sports nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich auch sein Berufsstand entsprechend entwickelt. Scheiwiller hat, nachdem er einige Jahre für die Agentur Photopress in Zürich gearbeitet hatte, sein eigenes Fotogeschäft aufgebaut und zwei Laboranten angestellt, die nur für die Entwicklung der Negative zuständig waren.
Ein Gespür für den richtigen Moment
Das war aber nicht sein Schlüssel zum Erfolg. Es blieben seine Bilder. Als talentierter ehemaliger Sportler – er war Fussballer, ein überdurchschnittlicher Läufer und Radfahrer – hat er die Bewegungsabläufe wie wenige andere nachvollziehen können. Er hatte ein Gespür für den Moment, der die Essenz der jeweiligen Disziplin ausmachte, für das «richtige» Foto.
Diese Intuition kam auch aus der Beobachtung. Scheiwiller war oft an den Trainings anwesend und hat die Sportler über Stunden studiert. Wenig überraschend waren bei den Zeitungsredaktionen seine Bilder sehr gefragt. Die, die keine von Scheiwiller bekommen konnten, hatten ihren eigenen Fotografen mit auf den Weg gegeben, sich immer in der Nähe Scheiwillers aufzuhalten. Das gäbe die guten Bilder. Doch Scheiwiller wusste nicht nur, wo er zu stehen hatte. Wie wenige andere hatte er einen Blick für die Veränderungen im Sport. Seien es angepasste Regeln, neue Trikots oder innovative Technik: Scheiwiller blieb offen für das Neue und hat es mit hoher Kunstfertigkeit dokumentiert.
Auf der Suche nach dem Schönen
Als beispielsweise beim Stabhochsprung der starre durch den biegsamen Stab ersetzt worden war, war er der erste, der die Kamera statt auf die Latte in luftiger Höhe auf den nahe am Boden hängenden Athleten richtete. So schuf Scheiwiller einen neuen Bildtypus. Aber Scheiwiller wollte nicht nur das Neue oder Eigenwillige zeigen, wichtiger als alles war ihm die Ästhetik: «Ich war immer auf der Suche nach dem Schönen im Sport.» Als 14-Jähriger war er tief beeindruckt von Leni Riefenstahls Olympia-Film zu den Spielen 1936 in Berlin: «Den habe ich mir gleich zwei Mal angeschaut.»
1971 lichtete er Meta Antenen, die ebenfalls an der Vernissage zugegen war, bei ihrem Sprung auf 6,81 Meter an den Schweizer Meisterschaften ab. Scheiwiller zeigt ein Negativ, auf dem Antenens Beine nicht parallel nach hinten weisen. «Das war der Sprung vorher. Ich wusste, dass ich noch ein wenig länger warten muss mit abdrücken, um den perfekten Moment zu erwischen.» Entstanden ist besagtes Bild von heute ikonischer Qualität. Der Sprung wurde zwar wegen zu viel Rückenwind aberkannt, aber das Bild blieb Teil der Schweizer Kulturgeschichte. Antenens gültiger Schweizer Rekord über 6,74 Meter aus demselben Jahr hielt übrigens bis 2010.
Bilder vom Sport und vom Geschlecht
Aus heutiger Perspektive können solche Bilder, die das Schöne und Graziöse insbesondere bei Sportlerinnen hervorheben, noch anders betrachtet werden. Natürlich kann argumentiert werden, dass sich der Sport in diesen Fotografien zur Kunst erhebt. Aber sie schaffen auch bestimmte Bildtypen, die sich in der Vorstellung einnisten, die immer wieder wiederholt werden und somit beteiligt sind an der kulturellen Konstruktion von (zum Beispiel) dem Geschlecht und Körper.
Sportgeschichte ist eben immer auch Kulturgeschichte: Wie werden Eiskunstläuferinnen gezeigt, wie Fussballer? Welche Arten von Bildern werden mit welchem Geschlecht assoziiert? Was wollen die Zeitungsredaktionen zeigen, welchen Blick hat der Fotograf auf den Sport? Scheiwiller sagt, es sei immer ein Abwägen gewesen; er habe immer gewusst, was die Zeitungen in etwa gewollt hätten.
Archivieren vor Ort
Genau deshalb ist es so erfrischend, dass das Sportmuseum mit Projektleiter Benedikt Wyss an dieser Sonderausstellung an der Photo13 – neben der Präsentation der bekannten Arbeiten Scheiwillers – vor Ort die Bestände archiviert. Also alte Negative auf dem Lichttisch zeigt, sie einscannt und katalogisiert. Weil so auch diejenigen Fotografien, die als nicht zeigbar galten, an die Öffentlichkeit gelangen. Und nicht erst, wenn das Archiv irgendwann ganz erschlossen ist.
Das macht deutlich, dass es auch andere Bilder von Stars wie Koblet oder Kübler gibt, die etwa Koblet nicht als Dandy stilisieren oder Kübler nicht als Arbeiter. So wird erkennbar, wie bestimmte Images (und Geschlechterzuschreibungen) in Zusammenhang stehen mit einer medialisierten Gesellschaft und der Prägung von Mentalitäten.
Eröffnet diese Perspektive eine Möglichkeit der Kritik, so ist diese nicht an Scheiwiller adressiert. Als Kind seiner Zeit hat er einen Bildschatz geschaffen, der für die Schweizer Kulturgeschichte kaum hoch genug einzuschätzen ist. Erzählt Scheiwiller noch dazu von seinem eigenen Schaffen, ist das ein einmaliges Zeugnis eines vergangenen Verständnisses von Bewegung und Bild, das festzuhalten ebenso lohnenswert scheint wie seine Fotografien.