Umbrien im August habe ich mir sonniger vorgestellt. Nicht nur ich – auch die Einheimischen sind fassungslos. Noch nie, sagen sie, hätten sie einen solchen Sommer erlebt.
Klösterliche Ruhe bis um acht und dann ein Gong. Irgendwas Geordnetes aus früheren Zeiten hat sich in diesen Klostergemäuern gehalten – die beiden launigen Gastgeber kündigten an, dass das Buffet bereit stehe. Und sie haben sich nicht lumpen lassen. Ein richtig üppiges Frühstücksbuffet stand bereit.
Bin nun dreieinhalb Monate unterwegs und irgendwo in mir regt sich ein Stalldrang, obwohl ich gar keinen Stall mehr habe. Vielleicht ist es auch der Wunsch, zurückzukehren, Moni zu sehen, andere zu treffen, die ich vermisse. Sonst – wer weiss und der Wunsch war mir zuvorderst – hätte ich gern gefragt, ob ich noch eine Nacht bleiben könne in diesem hübschen Dorf, in dieser weltlich-klösterlichen Idylle.
Unter bemerkenswerter Anteilnahme der Kloster-Gäste packte ich das Velo, fuhr bei bedecktem Himmel los und genoss die angenehme Temperatur. Zwei Steigungen hast du vor dir, sagte der Wirt, die erste vor Montefalco, die zweite zwischen Spoleto und Terni. Dann geht’s nur noch abwärts und ebenaus nach Rom. Und ich wollte ihm nochmals sagen, dass ich gar nicht nach Rom wolle, aber er hatte sich schon anderem zugewandt.
Weite Sonnenblumenfelder
Die erste Steigung nach Montefalco, ein wunderhübsches Städtchen auf einem dieser vielen Hügel, trottete ich hinauf. Eine fruchtbare Landschaft weiterhin, Wein und Oliven, und weite Girasole-Felder. Die Körbe der Sonnenblumen sind reif in dieser Gegend, schwer hängen die mächtigen Köpfe am Stängel, als verneigten sie sich andächtig in Richtung Osten. Grünlich-gelb zeigen sie den Vorbeigehenden ihre Hinterköpfe, tief verneigt stehen ganze Völker von Sonnenblumen-Populationen in den Feldern. Nur einzelne, kleine, zu spät reif gewordene heben ihre gelben Köpfe noch hoch, als seien sie ungehorsame Kinder, denen der Respekt vor der Andacht fehlt.
Es war dann aber vorbei mit kontemplativen Betrachtungen. Der Wind begann heftig zu blasen, bremste mich sogar auf der Talfahrt Richtung Spoleto und ich kam nicht drum herum: ich musste das Regenzeug auspacken. Ein unangenehmes Treten in dieser Pellerine. Zehn Kilometer vor Spoleta machte ich in einem Häuschen einer Bushaltestelle Pause und wartete auf anderes Wetter. Der Regen sollte nochmals aufhören, tatsächlich, doch bereits in Spoleto schüttete es von neuem. Da sass ich nun in einer Bar, in meiner Aufmachung vorerst nicht eben freudig empfangen, trank einen Tee und schaute zu, wie im hinteren Teil Paare und Grüppchen fein tafelten.
«Wie alt bin ich?»
Der Wirtin war ich dann doch ein bisschen ein Problem und ich entschuldigte mich für mein nutzloses Dasitzen und gewann so viel Verständnis, dass man mich duldete. «Schau mich an», sagte sie, «wie alt bin ich?» «Dreissig», riet ich. «Danke, du bist ein Schmeichler», sagte sie, «ich bin sechsunddreissig. Und weisst du, warum ich das sage? Ich bin sechsunddreissig und meiner Lebtag nie hab ich einen solchen Sommer erlebt.» Den ganzen Juli habe es geregnet und es werde weiter regnen. Wohin das wohl führe. Keine Freude auf Ferragosto. Und die Ausländer bleiben weg.
Der Regen hörte nicht auf, liess aber etwas nach, ich stülpte die Pellerine wieder über und machte mich davon aus diesem tristen, im Grau etwas klobig wirkenden Spoleto. Und es ging ständig bergan, nicht heftig, aber dauernd so ein bisschen, und ich dachte an die Typen, die mir in Figline geraten hatten, mit dem Velo nach Sizilien zu fahren – es sei ganz einfach, gehe immer abwärts. Ich musste derart in die Pedale treten, dass ich das Gefühl bekam, der Rucksack sei gar nicht mehr auf den Gepäckträger gebunden, sondern ich schleppe ihn nach. Bin immer wieder abgestiegen, zu Fuss gegangen, an der Schnellstrasse zischten die Italiener vorbei in ihren schnittigen Wagen und in erheblichem Tempo. Und es tat in den Ohren und im ganzen Körper weh, wie die Reifen das Wasser auf der Strasse wegzischten, ein beissendes, aggressives Geräusch.
Unendlich traurig
Irgendwann stand ich auf sechshundertfünfzig Metern Höhe, die Strasse neigte sich, führte durch einen unbeleuchteten Tunnel und danach an einer Bar für Passfahrer vorbei. Hab was gegessen und schlotternd gemerkt, dass ich seit England nie mehr so durchnässt war. Die Leute in der Bar reichten mir rüber, was ich bestellte, wortlos, nicht unfreundlich aber unglücklich. Unglücklich und traurig über diesen Sommer, dieses Wetter, das sie so strafte. Manchmal – mit schwerem Augenaufschlag – blickten sie an den wenigen Gästen vorbei hinaus ins Freie, als ob dort der böse Onkel oder Papa stünde, der sie am Vormittag ungerechtfertigt geschlagen habe. Unendlich traurig, fassungslos über das Grau des Himmels.
Es war kalt in den nassen Kleidern, doch auf der rasenden Fahrt den Pass hinunter hab ich es kaum gespürt. War zu sehr eingenommen vom scheppernden Geräusch der Pellerine, die sich gegen den Zugwind wehrte. Einige Kilometer vor Terni war die Abzweigung, die ich mir eigentlich vorgenommen hatte, um Rom weiträumig zu umfahren, doch ich hatte beschlossen, bis zum nächsten Albergo einfach drauflos zu fahren.
Bin dann aber doch abgebogen, und es folgte die dritte und nahrhafteste Steigung. Der Regen hatte für eine Zeit aufgehört, ich fuhr und marschierte hoch, überwand einen neuen Pass und trat in eine völlig andere Welt ein. Hohe Hügelzüge reihten sich hintereinander und wo immer ein Hügelkopf aus dem endlos wirkenden Gebirge herausragte, hatte sich ein Dörfchen festgemacht. Burgähnlich drängen sich die Steinbauten aneinander, sieht aus, als ob sie fröstelten bei diesem Wetter. Ergeben lassen sie die Nebelschwaden an sich vorbeiziehen.
Albergo im Niemandsland
Ein Albergo gab es nirgends in all den Dörfern und selbst in Arrone, auf der Karte recht gross eingezeichnet, schickten mich die Leute zwei Kilometer weiter zur nächsten Wegkreuzung. Dort steht ein Ristorante mit Bar und Zimmer. Es war alles dunkel um fünf und ich setzte mich auf einen Stuhl im Trockenen, wollte den heftigen Regenschauer vorbeigehen lassen. Vor mir die Strasse, auf dem die Autos wieder so heftig vorbeizischten, dann ein Bach und dahinter ein Wald, der steil bergan stieg.
Eine junge Frau rief mich, aus einem der Fenster heraus. Ich fragte nach einem Zimmer und sie sagte, der Chef komme erst in einer Stunde. Ob sie denke, es habe eines frei, fragte ich und sie griff zu einem Mobiltelefon. Seltsamerweise kam der Chef nach fünf Minuten, führte mich eine Treppe hoch in ein kleines Appartement mit offenem Feuer, hiess mich, mich umzuziehen, da ich mich sonst erkälte.
Da sitz ich nun, an einer Strassenkreuzung in den weiten und undurchdringlichen Wäldern des südlichen Umbriens, etwa hundert Kilometer von Rom entfernt, in einer kleinen Wohnung, die jemand irgendwann mit einem unterdessen verdorrten Blumenstrauss in einem Coca-Cola-Glas hat wohnlicher machen wollen. Auf dem Kaminsims stehen Heiligenbilder, die Backofentür hängt schräg runter, der Hahn tropft, im Schüttstein steht abgewaschenes Geschirr und die Zeitungen, die ich unten in der Bar gefunden habe, klagen noch lauter als in den gestrigen Ausgaben darüber, dass die Touristen ausbleiben.
(Arrone, 10. August 2002)