Die Zeit steht. Die Kamera verweilt. Die Schauspielerin spielt dutzende Male dasselbe. Ein Film nicht für Jedermann. Aber Kino für Neugierige. So geht’s. Locarno zeigt: «Metabolism».
Film ist Erwartung: Die weckt «Metabolism» im ersten Satz. Und lässt lange nicht mehr los. «Heute wird eine Nacktszene geprobt.» Während wir, zwischen dem Regisseur und seiner Darstellerin eingequetscht durch die nächtliche Stadt fahren, entspinnt sich in einer ewig langen Kameraeinstellung ein Dialog über die Begründung für Nacktheit in einem politischen Film. Die Begründung für Nacktheit als Zeichen der Ausgesetztheit. Ebenso wie die Begründung als Signal an die Filmgeschichte. Fünfzig Jahre später soll selbst die Schauspielerin noch einen Grund darin finden können, einst eine Nacktszene gedreht zu haben: Um sehen zu dürfen, wie schön sie einst war.
Gleich in dieser ersten, minutenlangen, ungeschnittenen Einstellung enthüllt die Regie in «Metabolism» ihr eigenes Rezept: Die Beschränkung fordert Sinneserweiterung. Der Regisseur liebt es, mit herkömmlichem analogem Film zu arbeiten. Das beschränkt die maximale Länge seiner Einstellungen auf elf Minuten. Der Regisseur mag diese Einschränkung. Sie zwingt ihn zum Verzicht. Zum Beispiel auf Einstellungen, die länger als elf Minuten sind. Tatsächlich endet dann die erste Einstellung auch erst nach gefühlten elf Minuten.
Der selbsterklärende Film
Der Regisseur und Drehbuch-Autor Corneliu Porumboiu liefert aber noch mehr Rezepte, etwa wie zu kochen sei, oder wie zu essen, um seine Sinneserweiterungen zu begründen. Die chinesische Art nämlich, mit Stäbchen zu essen, zwinge den Koch dazu, viel einfacher aber differenzierter zu kochen. Das Stäbchenessen schliesse ein T-Bone-Steak aus. Die Esser zwängen den Koch eben zu grösseren Feinheiten.
Längen und Feinfühligkeiten begleiten uns durch eine Geschichte von Dreharbeiten in «Metabolism»: Der Regisseur und Autor des Films hat eine Nacktszene mit einer Nebendarstellerin geplant. Die Nacktszene aber hat sich nun schon neben der Kamera in seinem Hotelzimer bereits in seinem realen Leben verwirklicht, mit ihr und ihm als Hauptdarsteller: Jetzt probt er mit ihr in einer bekleideten Variante für die Dreharbeiten, die im Film Eingang finden sollen.
Rumänien zeigt Europa, wo die Latte liegt
«Metabolism» besticht durch höchst artistische Hör-Dialoge. Nicht nur tritt das Drehbuch den Beweis an, dass karge Dialoge dem Betrachter ebenso eine grosse Erzählwelt öffnen können wie gerissene Bildwelten. Der Film geizt auch nicht mit selbstreferentiellen Hinweisen, wie er zu lesen sei. Das macht ihn zu einem vergnüglichen Fernkurs für junge Regiestudenten, zu einem Fundus für junge Schauspiel-Anwärterinnen und eben auch zu einem spannenden Filmfilm. Spannend bleibt auch, ob er den Weg in unsere Kinosääle finden wird: Immerhin spielt mit Bogdan Dumitrache (den wir kürzlich in «Child’s Pose» gesehen haben) einer der neuen Stars des rumänischen Kinos mit.
Während der Regisseur mit der Schauspielerin an der Nacktszene probt, streift er mit Antonioni seinen grossen Lehrmeister, benennt mit Anton Tschechov seinen literarischen Leuchtturm. Schon während der Proben zu den Dreharbeiten entsteht vor unseren Augen der Entwurf zu einer Szene mit allen Fragestellungen, die sich schliesslich in der einen Frage an die Schauspielerin zuspitzen: «Warum tust du das? Weil es im Skript steht? Dann tu es nicht. Tu‘ etwas anderes.»
Die Macht des Theaters für den Film zurückerobern
Zu «Metabolism» gehört nicht nur diese unbedingte Wahrheitssuche im Spiel. Was «Metabolism» zu einem herausragenden Werk macht, dass es neben seinem verwegenen künstlerischen Konzept auch gleich seine eigene Machart begründet, dem Zuschauer nicht nur Hilfe bietet, wie er eine Szene lesen kann, sondern auch, die Rezepte preisgibt. Das ist es, was den rumänischen Film zum momentan spannendsten und erfolgreichsten Europas macht: Eine kompromisslose Suche nach Neuland auf allen Ebenen der Filmkunst.
Die Rumänen sind so etwas wie die Avantgarde der naturalistischen Lakonie: Was Jon Fosse für das europäische Theater ist, liefern die rumänischen Filme zur Zeit an die Festivals. Die Schauspielersprache wird dabei mit den Mitteln der längst vergessenen Theater-Avantgarde neu verfeinert. Mit seinem armen Stil liefert «Metabolism» ohne Zweifel rekordwenig Schnitte. Die finanziellen Beschränkungen der Jetztzeit werden als Herausforderung verstanden. Statt Drehort-Inflation herrscht Konzentration auf die Schauspieler. Die technische Überflutung dient als Auslöser von neuen Begründungen für einfache Bildsprache. Auch das Drehbuch von Corneliu Porumboiu würde als Hörspiel gleich auf mehreren Ebenen überzeugen.