Nach dreiwöchiger Vorbereitung beginnt die WM auch für die Schweiz. Der Start in Brasilia gegen Ecuador (18 Uhr) ist wegweisend im Kampf um einen Platz in den Achtelfinals.
Personell scheint fast alles klar und doch begleiten einige Fragen den Schweizer Tross. Am Freitagabend reiste die Schweizer Nationalmannschaft von ihrem Team-Camp an der Atlantik-Küste in die Hauptstadt Brasilia. Nach neun Tagen in Weggis und nach einer knappen Woche in Porto Seguro begann die unmittelbare Vorbereitung auf das WM-Startspiel gegen Ecuador mit einem Flug ins Ungewisse. Nach dem idyllischen Weggis und dem fröhlichen Porto Seguro, wo sich die Schweizer rasch wohl fühlten, nun also Brasilia, die in den Fünfzigerjahren am Reissbrett entworfene und 1960 gegründete Hauptstadt Brasiliens. Die Schweizer kennen hier nicht das Hotel und auch nicht das Stadion. Nur ein einziges Training können sie vor dem WM-Auftakt im Estadio Nacional mit seinen knapp 70’000 Plätzen absolvieren.
Eine Reise ins Ungewisse ist es auch aus sportlicher Sicht. In der Theorie hat die Schweiz alles perfekt geplant: die schrittweise Annäherung ans Klima und an die körperliche Bestform. Testspiele gegen Mannschaften (Jamaika und Peru), welche die WM-Gegner Ecuador und Honduras simulieren sollten. Die Spieler bekamen stundenlanges Bildmaterial, um die Gegner am Laptop zu studieren. Und doch sagte Stephan Lichtsteiner: «Wir sind ungeduldig, denn wir wissen nicht, wo wir stehen.» Nach acht Monaten ohne Pflichtspiel ist die Einordnung von Trainings- und Testspieleindrücken schwer. «Ist wirklich alles gut, von dem wir denken, dass es gut ist?», fragt sich Lichtsteiner.
Fast keine Fragen gibt es immerhin zur Startformation. Unklar scheint einzig, ob Fabian Schär oder Johan Djourou neben Steve von Bergen verteidigt. Vermutlich ist es Djourou. Der Rest scheint gegeben: Diego Benaglio steht im Tor, Lichtsteiner und Ricardo Rodriguez sind die Aussenverteidiger, Gökhan Inler und Valon Behrami spielen im defensiven Mittelfeld, vor ihnen agiert Granit Xhaka, auf den Flügeln spielen Xherdan Shaqiri und Valentin Stocker, und die Sturmspitze ist Josip Drmic.
Es sind andere Fragen, welche die Schweiz vor dem ersten Spiel beschäftigen. Fragen, deren Antworten darüber entscheiden, ob die SFV-Auswahl wie vor vier Jahren nach der Vorrunde nach Hause reist oder ob sie wie 2006 die Achtelfinals erreicht oder ob sie sogar Geschichte schreiben kann. Wenn sie also «über die Achtelfinals hinaus» kommen sollte, wie Hitzfeld diese Woche sagte. Fragen wie: Reicht die Physis einzelner Leistungsträger wie Xherdan Shaqiri, Fabian Schär oder Valon Behrami, die in der letzten Saison viele Wochen verletzt waren, um alle vier Tage ein WM-Spiel durchzustehen? Wie viel Offensivdrang von Aussenverteidiger Stephan Lichtsteiner verträgt es gegen ein konterstarkes Team wie Ecuador? Schiesst der 22-jährige Josip Drmic mit seiner Erfahrung von sieben Länderspielen auch auf WM-Niveau seine Tore? Ist Valentin Stocker endlich auch mal wieder im Nationalteam der torgefährliche und unangenehme Stocker, der er beim FC Basel war? Ist Granit Xhaka auf der Position hinter der Sturmspitze nicht nur ein wichtiger Spieler für die Balance im Mittelfeld, sondern auch mal wieder torgefährlich und mit Impulsen nach vorne?
Die Schweiz reiste aber auch mit einigen Gewissheiten zum ersten WM-Spiel. Sie weiss, dass sie als Kollektiv eine defensive Stabilität erlangt hat wie nur wenige Teams. Dass sie in den letzten sieben WM-Spielen nur ein einziges Tor kassierte, ist kein Zufall. Schweizer Erfolge standen in den letzten 20 Jahren immer auf dem Fundament von guter defensiver Organisation. Unter Ottmar Hitzfeld ist diese Stärke noch ausgeprägter als unter Köbi Kuhn (2006) oder Roy Hodgson (1994). Die Stabilität führte zuletzt zu herausragenden Ergebnissen. Die WM-Qualifikation brachte die Schweiz ohne Niederlage hinter sich. Von den letzten 16 Pflichtspielen verlor sie nur eines – und in allen Länderspielen zusammen gab es in den vergangenen zwei Jahren gerade mal eine Niederlage – das 1:2 im Test in Südkorea, dem ein 20-stündiger Flug um die halbe Welt vorausgegangen war.
Dieser Blick in die Vergangenheit kann der Schweiz Sicherheit geben, er ist aber keine Garantie, dass es in Brasilia gegen Ecuador auch gut kommt. Die Schweizer fürchten das feucht-heisse Klima, das für die Südamerikaner ein Vorteil sein könnte. Sie haben Respekt vor den schnellen Konterstürmern Enner und Antonio Valencia, vor dem bulligen Felipe Caicedo im Sturm und den zu erwartenden Provokationen von Seiten der «El Tri». Hitzfeld weiss: «Das ist ein harter Gegner, und das Spiel wird zum ersten Final im Kampf um die Achtelfinal-Plätze.» Nur wenn auf die gestellten Fragen eine positive Antwort folgt, kann die Schweiz diesen ersten Final schadlos überstehen. Sie muss sich gegen Ecuador, später gegen den Gruppenfavoriten Frankreich sowieso, aber auch gegen den Aussenseiter Honduras am oberen Limit ihrer Möglichkeiten bewegen.
Um die Gruppenspiele zu überstehen, braucht sie aber auch einen Coach in Topform. Ottmar Hitzfeld hat die Schweiz erfolgreich durch zwei von drei Qualifikations-Kampagnen geführt. Er hatte schwierige Momente wie die Heimniederlage gegen Luxemburg (2008), den grossen Generationenwechsel (2011) oder die Aufarbeitung des verwirrenden 4:4 gegen Island (2013) dank seiner Sozialkompetenz und den strategischen sowie kommunikativen Fähigkeiten gemeistert. Er hatte aber auch die letztlich fehlgeschlagene WM-Kampagne 2010 in Südafrika mit missglückten Personalentscheiden wie der Nomination des angeschlagenen Alex Frei gegen Chile oder dem Festhalten am schwachen und intern isolierten Blaise Nkufo zu verantworten.
Hitzfeld ist vor seiner letzten Herausforderung als Trainer motiviert, fokussiert und gelöst zugleich. Er wolle alles geniessen. Die Trainings, die Einzelgespräche, die Ansprachen, die Spiele mit der Schweizer Hymne. Er sagte, eine WM in Brasilien, für ihn das Ursprungsland des Fussballs schlechthin, habe nochmals eine ganz andere Dimension als eine WM in Südafrika. Hitzfeld ist motiviert, nochmals der beste Hitzfeld zu sein. Gelingt ihm dies, wird die Schweiz am Sonntag wohl erfolgreich in die WM starten und am Ende der Vorrunde nicht an Honduras scheitern. Es wäre der Beweis, dass sie tatsächlich weiter ist als vor vier Jahren im afrikanischen Winter.