Kann die Philosophie Lebenshilfe leisten? Ja, sagen philosophische Praktiker. Sofern sie die Grenzen ihres Terrains nicht verletzt.
Die Sokratiker von heute findet man im Telefonbuch. 16 Praxen für philosophische Lebensberatung sind dort alleine für die Deutschschweiz verzeichnet. Was rät man dort? «Ich rate nichts», sagt Martina Bernasconi, «ich kann nur dazu beitragen, das Denken zu befreien.»
Bernasconi hat in Basel, Berlin und New York Philosophie studiert und am Philosophischen Seminar der Universität Basel und der Fachhochschule Basel doziert. Seit zehn Jahren führt sie im Neubadquartier die «Denkpraxis». Eine Wand dort ist voll von Büchern, viel Schwarz von Suhrkamp und viel Grün der Philosophischen Bibliothek von Meiner, aber die Klassiker zieht sie nur selten aus dem Regal.
Das philosophische Gespräch in ihrer Praxis kommt in der Regel ohne die Fachgeschichte aus: Es bleibt nahe beim Leben ihrer Kunden. Die nennt sie dezidiert so, auch wenn manchmal ein «Patienten» dazwischenrutscht. Auf ihrer Website sind Fallbeispiele aufgeführt: der Tierarzt, 45, der in einer Midlife-Crisis steckt und neu beginnen will. Die Buchhalterin, 68, die in einem Erbschaftsstreit ethische Bedenken plagen. Die Ärztin, 55, die sich nicht zwischen Ehemann und Geliebtem entscheiden kann.
Befreites Denken
Die Ärztin ist ein beispielhafter Fall, sagt Bernasconi. «Nach mehreren Gesprächen hat sich herausgestellt, dass nicht die moralische Frage der Untreue sie beschäftigt, sondern der Entscheidungszwang, den ihr der Geliebte auferlegte.» So was meint Bernasconi, wenn sie «das Denken befreien» will: dass die Kunden ihre lange eingeübten und in feste Strukturen verfallenen Denkmuster reflektieren und aufbrechen. Braucht man dazu nicht eher ein Psychologie- denn ein Philosophiestudium?
Trennschärfe
Das ist nicht dasselbe, sagt Bernasconi. Die Trennschärfe ist ihr wichtig. Ihr philosophischer akademischer Rucksack hält kein therapeutisches Instrumentarium bereit, dafür aber Praxiserfahrung im Perspektivenwechsel. Die Philosophie hat in ihrer Geschichte über Jahrhunderte gleich bleibende Fragen immer wieder neu stellen müssen. Diese Beweglichkeit im Denken auf das Feld der persönlichen Sorge herunterbrechen zu können – das ist die Leistung der philosophischen Praxis.
Gleich Sokrates, der auf der Athener Agora die Menschen ins Gespräch verwickelte, sind die philosophischen Praktiker der Gegenwart von den Türmen heruntergestiegen. Sie erklären Managern die Moral, Genbiologen die Ethik, den Politikern die Grenzen der Macht. Das lässt sich durchaus in der Tradition verwurzeln. Bei Aristoteles findet man die Glückseligkeit als Ziel des menschlichen Daseins durch tugendhafte Lebensführung. Die Stoiker haben den Begriff dazu geprägt.
«Und von Kant», ergänzt Bernasconi, «ist ein Brief überliefert, in dem er einer an Liebeskummer leidenden Aristokratin beratend zur Seite steht.» Immanuel Kant, der grosse Königsberger und Ausgangspunkt des deutschen Idealismus, ist ein passender Name. In vier Grundfragen hat er die menschliche Existenz eingekreist, eine lautet: «Was darf ich hoffen?» Kant meinte damit den Menschen an sich und weniger den Einzelmenschen, der an einer philosophischen Praxis klingelt, aber der Gehalt der Frage ist Bernasconi aus ihrer Beratungsarbeit gut bekannt. Sie taucht auch in ihrem «Philosophischen Montagskreis», den sie monatlich leitet, regelmässig auf. «Menschen, die einschneidende Wendepunkte wie die Pensionierung als Erfahrung einer Leere erleben, treibt die Frage nach dem Sinn um.»
Dass die Sinnfrage nicht mehr nur den geoffenbarten Religionen, sondern ebenso ausserspiritualistisch gestellt wird, ist ein zeitgenössisches Symptom. Die Philosophie kann damit was anfangen – nicht mit positiven Antworten, aber indem sie der Dringlichkeit der Frage auf den Grund geht.
«Sinnlos glücklich»
Heidegger hat das Bemühen, dem Sein einen Sinn abzuverlangen, als Grundbedürfnis des abendländischen Denkens im Zustand der «Seinsvergessenheit» identifiziert. «Sinnlos glücklich», dieser Ausdruck in unserer Sprache gefällt Bernasconi. «Weil er in Frage stellt, dass Glück stets tadellos begründet sein muss.» Auch dazu gibt es eine philosophische Figur, den glücklichen Sisyphos von Albert Camus.
Wenn Philosophie Beratung leisten kann, ohne ihr Terrain der nüchternen Analyse und des offenen, doch präzisen Denkens zu verlassen, lässt sich wenig dagegen sagen. Dass diese Alltagsanwendung trotzdem Kritik erfahren hat und noch immer erfährt, hat nicht nur mit einer akademischen Philosophie zu tun, die in der Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts einem Wissenschaftsgeist verfiel, der keine Verwendung für Lebenskunst und -hilfe sah, sondern mit der berechtigten Sorge um den Begriff.
Als «Philosophien» werden heutzutage auch Marketingprogramme und Firmenstrategien euphemisiert, und im unverbindlichen Gespräch bleiben die Trennwände zur Psychologie, zur Esoterik, aber auch zur Plauderstunde grob durchlässig.
Gegen metaphysische Krisen
Mittlerweile gibt es einen Markt ausserhalb der Seminarräume, in dem Ratgeber wie «Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?» von Richard David Precht, anhand deren man persönliche metaphysische Krisen leicht zugänglich in grössere geistesgeschichliche Zusammenhänge auflösen kann, Bestsellerzahlen erreichen.
Bernasconi wappnet sich gegen die Kompetenzüberschreitung, indem sie zäh bei den Begriffen bleibt, die ihre Kunden benutzen, und – auch mit etymologischen Mitteln – die Begriffe auf ihre inneren Wurzeln und ihre Bedeutungsbeziehungen abklopft. Und votiert dafür, anstatt den Vorwurf der Verflachung hinzunehmen, eine Methodik der philosophischen Beratung gründlich zu entwickeln, etwa in Zusammenarbeit mit pädagogischen Hochschulen. Mit der Forschung an der Materie, die das Feld der Universitäten ist, hat diese Form philosophischer Praxis nichts mehr zu tun. «Das lässt sich aushalten», sagt Bernasconi, «das Potenzial der Philosophie ist unermesslich genug.»
Quellen
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.12.12