Rowaida Othman ist mit ihren vier Kindern über den Balkan in die Schweiz geflüchtet. Während drei Monaten erlebte die syrisch-kurdische Familie rücksichtslose Schlepper und Soldaten, lange Fussmärsche und Hunger. Nun erzählt die Mutter, wie ihre Kinder die Reise überstanden haben.
Um zwölf Uhr mittags kommen die vier Kinder wie alle anderen freudig über den Pausenplatz gerannt. Der grösste von ihnen, der elfjährige Sulaiman, kann sich schon gut mit seinen «Gspänli» verständigen, bei seinen drei Geschwistern ist noch ausschliesslich Kurdisch zu hören. Die vier haben eine bewegte Zeit hinter sich: Im Mai dieses Jahres erreichten sie zusammen mit ihrer Mutter die Schweiz. Die Fluchtroute über den Balkan nahm insgesamt drei Monate in Anspruch.
Rowaida Othman trat die beschwerliche Reise mit ihren Kindern auf eigene Faust an, um den Ehemann und Vater Ismail Abbas, der bereits seit fünf Jahren in der Schweiz lebt, wieder zu sehen. Zusammen mit ihren Kindern Sulaiman, Abdulkarim, Azima und dem erst fünfjährigen Salman erreichte sie ihr Ziel im Mai. Auch der bereits erwachsene Mohammed, der Sohn aus der ersten Ehe von Ismail, schloss sich der Flüchtlingsgruppe an.
Spiessrutenlauf von Schlepper zu Schlepper
Die Familie stammt aus einem kurdischen Dorf im Dreiländereck Syrien-Irak-Türkei. Dort gehörte ihr ein Landwirtschaftsbetrieb mit Schafen und Kühen sowie einer Imkerei mit einigen Bienenvölkern. Ismail Abbas entschloss sich aus politischen Gründen, seiner Heimat den Rücken zu kehren. Wie er sagt, hätten ihn Polizisten ständig dazu zwingen wollen, sich als Informant einspannen zu lassen, um seine kurdischen Kollegen zu bespitzeln. Nach mehreren Drohungen habe er deshalb in der Schweiz Asyl beantragt – in der Hoffnung, eines Tages seine Familie hierher zu holen.
Während dieser Zeit wohnte Rowaida bei der Familie von Ismail. Dort seien sie und ihre Familie aber ständig – quasi in Sippenhaft – von der Polizei drangsaliert worden. Zudem erkrankte unter den schlechten hygienischen Bedingungen die kleine Tochter Azima, worauf sie in den Irak zu einem Schwager zogen. Anschliessend lebte die Familie während fast zwei Jahren in der Türkei, was aber ebenfalls nur ein Provisorium war: «Auch dort waren unsere Lebensbedingungen schlecht, und die Kinder wurden immer wieder krank», sagt Rowaida.
Der kleine Salman konnte nur noch vor Angst schreien, während der 20-jährige Mohammed, von den Soldaten geschlagen wurde
Nach langer Zeit konnte sie schliesslich die Reise nach Basel organisieren. Rund drei Monate dauerte die Flucht. Der Grund dafür waren zahlreiche Leerlauftouren: Um über die türkisch-bulgarische Grenze zu gelangen, brauchte es mehrere Versuche. Organisiert wurde das von der «Mafia», wie Rowaida diese Gruppen stets nennt.
Dabei war das Prinzip stets dasselbe: Von einem geheimen Treffpunkt wurden die Flüchtlinge zum nächsten weitergeschickt, um dort von einem weiteren Schlepper abgeholt zu werden. Manche Etappen wurden in Fahrzeugen, andere zu Fuss zurückgelegt. Bei der türkischen Stadt Edirne, nahe der Grenze zu Bulgarien, pferchten die Schlepper etwa 50 Personen in einen Lastwagen. Im engen und stickigen Vehikel hatte Rowaida grosse Angst um ihre Kinder. Rufe nach einer Pause, um richtig durchatmen zu können, wurden ignoriert.
Nicht nur das machte der Familie zu schaffen: In der Nähe zur bulgarischen Grenze tauchten türkische Soldaten auf. Während die anderen Flüchtlinge das Weite suchten, konnte Rowaida mit den kleinen Kindern nicht einfach so davonrennen. «Die Soldaten haben die Waffen auf die Kinder gerichtet und sie abgesucht.» Der kleine Salman konnte nur noch vor Angst schreien, während sein Halbbruder, der 20-jährige Mohammed, von den Soldaten geschlagen wurde.
«Manchmal mussten wir sogar Blätter von den Bäumen essen»
Via Bulgarien und Serbien ging es weiter über die ungarische Grenze: Der dreistündige Fussmarsch führte durch Maisfelder, um dort den nächsten Fluchthelfer mit dem Auto zu suchen. Dabei verletzte sich der eine Sohn nach einem Sturz in der Dunkelheit am Kopf. Für eine Pause blieb keine Zeit, denn die Familie musste schnurstracks weiter, um das nächste Auto, das in Ungarn auf sie wartete, zu finden. Von dort aus ging die Fahrt direkt nach Österreich weiter.
Lange Märsche durch den Schlamm, Kälte und Hunger machten den Kindern auf der Flucht durch den Balkan zu schaffen. Bisweilen hatte die Familie während mehreren Tagen kaum Proviant dabei. «Manchmal mussten wir sogar Blätter von den Bäumen essen», erinnert sich Rowaida. Ansonsten haben sich die Kinder meistens von Biskuits und Wasser ernährt. «Mit der Zeit hatten sie gar kein Hungergefühl mehr», erzählt Rowaida.
Als es einmal sehr kalt war, machten die Kinder ein Feuer. Dabei verbrannte sich der jüngste Sohn Salman die Hand. Die Schlepper fauchten den weinenden Buben an, er solle gefälligst den Mund halten, um die Gruppe nicht auffliegen zu lassen. Die Kommunikation mit den Schleppern war nicht einfach: Rowaida weiss nicht, welche Sprache diese Leute gesprochen haben und woher sie kamen. Eines haben sie aber verstanden: «Ständig haben sie die Kinder angeschrien, um sie zum Schweigen zu bringen», erzählt Rowaida. Ohne medizinische Hilfe in der Nähe versuchte sie, behelfsmässig die bereits gelblich gefärbte Hand zu verarzten.
Gedanken an Umkehr
Insgesamt musste die Familie 47’500 Euro für die strapaziöse «Reise» bezahlen. Viel Geld für die Bauernfamilie, nur dank der Unterstützung von mehreren Verwandten konnten sie den Betrag zusammenbringen: Ismails Vater verkauft Autos, ein Bruder von ihm ist Immobilienhändler im Irak. Zudem konnte Ismail in Damaskus – er betrieb dort eine Zeit lang einen Lebensmittelladen – eine Wohnung vermieten. Vor dem Kriegsbeginn, als er in die Schweiz zog, verkaufte er sie, was zusätzliche Ersparnisse einbrachte.
Die Reisegefährten der Kinder waren nicht in erster Linie Familien: Zumeist stiessen sie auf junge Männer, einige von ihnen ebenfalls syrische Kurden, aber auch Iraker und Afghanen. Zu Beginn war noch eine weitere Familie mit zwei Kindern mit dabei. Diese verschwand aber in Bulgarien, denn dort spaltete sich die Gruppe in mehrere kleine Ableger auf.
Gespielt haben die Kinder auf der Reise kaum: Entweder waren sie auf engem Raum oder zu Fuss unterwegs, oft auch sehr verängstigt. Bisweilen kamen grosse Zweifel auf, ob die Flucht mit den Kindern die richtige Entscheidung war. In Bulgarien etwa war die Familie derart erschöpft, dass sie beinahe einen Rückzieher machte. Von dort aus rief Rowaida ihren Schwager im Irak an. «Wir müssen zurück – das schaffen wir nie», klagte sie. Die Verwandten redeten ihr gut zu und überzeugten sie, die Reise fortzusetzen. Der innere Antrieb war dabei stets der Wunsch, Ismail zu sehen. «Wir müssen das alles durchstehen, damit ihr beim Vater sein könnt» – mit diesen Worten ermunterte Rowaida immer wieder ihre Kinder.
Schliesslich erfüllte sich auch dieses Versprechen: Die Familie war im Mai wieder vereint. Der fünfjährige Salman hatte seinen Vater noch nie zuvor gesehen – er kam kurz nach Ismails Abreise zur Welt. Auch Ismails Schwester gelangte in die Schweiz. Sie hatte ebenfalls Glück im Unglück: Zusammen mit ihren Kindern überquerte sie mit einem Boot das Meer. Bei der türkischen Küste sank das Schiff, wobei rund die Hälfte der Passagiere ums Leben kam – sie und ihre Kinder überlebten.
Nach der Ankunft der vier Kinder in der Schweiz war es nicht nur einfach. Als eingeschüchtert oder gar «verrückt» hat der Vater die Kleinen erlebt. «Die Angst war noch in ihren Augen zu sehen», erinnert sich Ismail. Jedes Mal, wenn er die Kinder zum Einkaufen oder auf einen Spaziergang mitnahm, zogen sie sich blitzschnell und nervös an, als müssten sie augenblicklich davonrennen. Die Vorstellung, dass noch überall Gefahren lauern und daher alles schnell gehen muss, um ja nicht erwischt zu werden, steckte auch in Basel noch tief in den Köpfen der Kinder.
Berufswunsch Polizist
Die Familie ist nun in einer Dreizimmerwohnung im Kleinbasel untergebracht. Die Kinder besuchen die Schule und die Tagesstruktur. «Die Lehrpersonen kümmern sich sehr gut um sie», findet die Mutter. «Sie sind langsam das Leid los – nun haben sie Träume.» Die siebenjährige Azima möchte etwa gerne Ärztin oder Lehrerin werden, ihr zwei Jahre älterer Bruder Abdulkarim träumt von einem Beruf als Anwalt.
Sehr überrascht waren die Eltern jedoch über den Berufswunsch von Sulaiman: Er möchte gerne Polizist werden. Auch der kleine Salman freut sich jedes Mal, wenn ein Streifenwagen an ihm vorbeifährt. Trotz aller negativen Erfahrungen mit Uniformierten sehen die Buben diese Berufsgruppe in der Schweiz offenbar mit anderen Augen: «Hier mögen sie die Polizisten», sagt Rowaida schmunzelnd.