Naeem hat im Sudan Proteste gegen die Enteignung von Landwirtschaftsfläche organisiert und wurde dafür unter strikte Polizeiüberwachung gestellt. Jetzt wartet er in Griechenland auf seinen Asylentscheid. Der neueste Eintrag in unserem Blog «Fluchtweg».
«Nicht jetzt, warte», flüstert Naeem. Er neigt den Kopf zu dem Ägypter, der neben uns betet. «Ich traue ihm nicht», sagt er noch leiser. Bis auf das kaum hörbar gemurmelte Gebet und das Gurgeln von Naeems Wasserpfeife ist es still. Ich habe ihn nach seinem Fluchtgrund gefragt.
«Hassan al-Turabi», sagt Naeem stattdessen. «Ein politischer Mann. Mein Onkel – du wirst viel über ihn finden.» Tatsächlich findet sich viel über ihn. Turabi war einer der ersten Sudanesen mit Doktortitel – ein Intellektueller und zugleich ein als progressiv geltender religiöser Führer. Politisch hat er den Sudan massgeblich beeinflusst: Sowohl unter Numeiri wie auch al-Baschir besetzte er wichtige Ämter, verbrachte aber unter beiden auch einige Zeit im Gefängnis.
Der Ägypter steht auf, faltet den Teppich zusammen und wechselt ein paar Worte mit Naeem auf Arabisch, bevor er sich verabschiedet. «Der Sudan hat viele Probleme», sagt Naeem, sobald die Tür hinter dem Mann zugefallen ist. «Ich bin Buchhalter, aber ich kann kein Geld verdienen.» «Wenn du nicht mit der Regierung bist, machen sie dir das Leben schwer», führt er aus. Er macht eine kurze Pause. «Der andere Grund, weshalb ich den Sudan verlassen habe: die Regierung überwachte mich.» Naeem spricht langsam und pointiert – immer darauf bedacht, dass ich alles notieren kann.
«Wir wollen unsere Rechte. Wir brauchen unser Land», haben wir geschrien. Dann kam die Polizei.
«Wir besitzen Land im Al-Dschazira-Landwirtschaftsprojekt. Die Regierung wollte es uns abnehmen», erklärt er. Das Dschazira-Projekt wurde 1911 von einer britischen Gruppe für den Anbau von Baumwolle gestartet. Bis 1962 wuchs das Bewässerungsprojekt in der Dschazira-Ebene südlich von Khartum auf rund 8820 km² an und wurde zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor des Sudan. Laut corpwatch.org wurde nach der Abspaltung des Südsudans 2011 und dem damit einhergehenden Verlust der meisten Ölreserven nach Investoren in Saudi-Arabien gesucht: unter anderem für das Dschazira-Projekt.
«Wir haben uns organisiert», sagt er. Ein Komitee, eine Gruppe von rund 150 Intellektuellen, sei gebildet worden. Die von der Regierung gebotenen 100 Dollar pro Feddan (4200 m2) seien zu wenig für das Land – der vom Komitee vorgeschlagene Preis von 500 Dollar aber abgelehnt worden. Schliesslich hätten sie eine wichtige Strasse blockiert, um Druck auszuüben. «‹Wir wollen unsere Rechte. Wir brauchen unser Land›, haben wir geschrien», erzählt Naeem. «Dann kam die Polizei.»
Folter im Gefängnis in Khartum
Naeem und fünf andere seien ins Gefängnis in Khartum gebracht worden. «Die fünf haben alle mich als Organisator angegeben», bemerkt er mit einem gequälten Lächeln. Zwei Wochen habe er im Gefängnis verbracht. «Sie haben mich geschlagen, mit Wasser und Strom gefoltert und gebrannt.» Er zeigt auf eine Narbe an seinem Unterarm. «Das haben sie mit glühender Kohle gemacht.»
«Hier, dann hier, dann hier», sagt er, während er mit dem Finger seinen Arm hochfährt. Er neigt seinen Kopf zur Seite und deutet auf seine Wange: «Die hier ist die letzte – danach haben sie mir ein Dokument hingelegt.» Sie hätten ihm damit gedroht, das nächste Stück Kohle in den Mund zu legen, würde er nicht unterschreiben.
Folterspuren an Naeems Unterarm. (Bild: Simon Krieger)
«Ich hatte Angst, also habe ich schliesslich unterschrieben», gesteht er. Mit seiner Unterschrift habe er zugesagt, alle politischen Aktivitäten einzustellen und sich nur zwischen seinem Dorf und Khartum zu bewegen. Einmal im Monat habe er sich bei der Polizei melden müssen. Sollte er sich weiterhin an Protesten beteiligen, würden sie ihn töten, hätten sie ihm gedroht.
Flucht nach Europa
«Ich habe mehrmals versucht, den Sudan zu verlassen, aber es war zu gefährlich.» Schliesslich habe ihm ein Freund seinen Pass gegeben. Mit diesem Pass sei er dann von Khartum nach Ankara geflogen und von dort weiter nach Izmir gereist.
Zusammen mit 27 weiteren Flüchtlingen wagte er Anfang Januar die Überfahrt nach Lesbos. Doch knapp vor der Küste seien sie erwischt worden. «Die Küstenwache nahm unseren Motor und zog uns dann mit einem Seil zurück in türkische Gewässer», schildert er den Vorfall. «Wir mussten die türkische Küstenwache um Hilfe rufen.» Nach drei Tagen im Gefängnis habe er es bald darauf wieder versucht. Dieses Mal mit mehr Erfolg.
Kaum angekommen seien sie von der Polizei aufgegriffen und ins Gefängnis gebracht worden. «Ich habe immer wieder gefragt: warum? Ich bin kein Krimineller. Doch sie behielten mich zwei Monate im Gefängnis – es war schrecklich», sagt er aufgeregt. Er nimmt ein paar Züge von der Wasserpfeife und fügt an: «Danach gaben sie mir einen Termin für die Anhörung. Die war vor drei Tagen.»
Die Hoffnung liegt in England
Naeem schaut aus dem dem Fenster und nimmt ein paar Züge von der Wasserpfeife. «Der Sudan hat viele Probleme», bekräftigt er nach einer kurzen Pause noch einmal. Etwas leiser: «Die Regierung ist so schlecht.» In einer Familie mit zehn Mitgliedern müssten alle arbeiten, um genügend Geld zu verdienen, erklärt er mir. Wenn man nicht arbeiten könne, verdiene man auch nichts. Medizinische Versorgung, Bildung, alles müsse man aus eigener Tasche bezahlen. «Buchhalter ist ein guter Job. Zehn Jahre habe ich als Finanzverwalter gearbeitet, aber kaum Geld verdient.»
«Dein Onkel», frage ich, «hat er auch Probleme?» «Mein Onkel?», Naeem lacht. «Nein, nein, der geht durch alle Regierungen – er findet immer einen Weg», versichert er mir. Das sei ein gefährliches Spiel, aber Hassan sei sehr clever.
Beim ersten Treffen erzählte Naeem mir, dass er nach England wolle, sobald er Asyl in Griechenland erhält. Darauf angesprochen zuckt er mit den Schultern, lächelt und antwortet: «Das ist nur so eine Idee.» «Ja», sagt er dann wieder bestimmter, «ich müsste keine neue Sprache lernen, es gibt viele Sudanesen dort und vielleicht sogar Arbeit für mich – als Buchhalter.» Naeem lehnt sich zurück, legt die Füsse hoch, und raucht weiter. Eine Weile lang schweigt er. Dann beginnt er herzhaft zu lachen. «So setze ich mich am liebsten hin, wenn ich nichts zu tun habe – wenn ich warten muss.» Er reicht mir die Wasserpfeife und fügt an: «Und jetzt muss ich erstmal auf den Entscheid warten.»
Naeem am Fenster in seiner Unterkunft im offenen Flüchtlingslager Pikpa. (Bild: Simon Krieger)
Die ungefähre Route von Javeds Flucht aus dem Iran bis nach Griechenland.