«Naked Lunch»: Ein Buch wie Schüttelfrost

Heute vor 100 Jahren kam William S. Burrough zur Welt, sein Fixerroman «Naked Lunch» lehrt uns noch heute das Zittern.

Davon kriegt man rote Augen: Cover zu «Naked Lunch» von William S. Burroughs. (Bild: Picasa)

Vergessen Sie Ihre Manieren und behalten Sie die Ellenbogen samt Armbeuge auf dem Tisch: «Naked Lunch» von William S. Burroughs wird serviert, auf einem russigen Löffel.

Seit 65 Jahren steht das unverdauliche Stück «Beat»-Literatur über die Hölle der Heroinsucht in den Buchhandlungen und hat auch im Renten­alter nichts von seinem Schockpotenzial eingebüsst: ­Sexorgien, rituelle Tötungen, Kinds- und Substanzmissbrauch, Blasphemie – für jeden schwachen Magen ist etwas dabei.

Die Handlung zusammenfassen zu wollen, ist sinnlos. Burroughs benutzte die «Cut-up»-Methode der Surrealisten, um Manuskriptseiten auseinanderzuschneiden und neu zu kombinieren. «Bei ‹Naked Lunch› kann man an jeder Stelle einsteigen», schreibt Burroughs, das Buch sei «ein Kaleidoskop von Perspektiven, ein Potpourri von Melodien und Strassenlärm, Fürzen und gellendem Aufruhr …».

Ein Bostoner Gerichtshof witterte den «widerlichen Gifthauch ununterbrochener Perversion».

Was als Ich-­Erzählung eines schwulen Junkies beginnt, taucht schon nach wenigen Seiten ab in ein Chaos aus Paranoia, Perversionen und Phantasmen, die auf den Leser einstürmen. Die Sprache reibt sich wund am Höchsten und Niedersten («Geneigte Leser, wir sehen Gott durch unsere Arschlöcher im Blitz des Orgasmus») und ist von einer physischen Eindringlichkeit, die man zu riechen glaubt.

Kick folgt auf Kick, der Stoff wird härter, und das nächste Kapitel ist garantiert noch krasser als das vorangegangene – so funktioniert Sucht. Messerscharf blitzt die Satire auf, wenn Homosexualität und Drogenabhängigkeit zum moralischen Defekt erklärt werden, den Ärzte und Psychiater mit ­sadistischer Gründlichkeit ausmerzen. Der Südstaaten-Lynchmob ist high vom «nigga»-Blut, und die polizeistaatliche Kontrolle hat den grössten Suchtfaktor überhaupt, führt sie doch «nie zu etwas anderem als zu mehr Kontrolle … wie Junk …».

Auf der schwarzen Liste

Drei Jahre nach seinem Erscheinen rutschte das Buch 1962 auf die schwarze Liste der Zensurbehörden, ein Bostoner Gerichtshof witterte den «widerlichen Gifthauch ununterbrochener Perversion», wie es im Urteil hiess. Erst 1966 wurde das Verbot revidiert: «Naked Lunch» durfte sich, wie schon einige Jahre zuvor Allen Ginsbergs Gedicht «Howl», einen «gesellschaftlichen Wert» attestieren lassen.

Die Popkultur kannte weniger Berührungsängste: Mit Mick Jagger war ein ­Musical zu «Naked Lunch» geplant, die Beatles hievten Burroughs auf ihr «Sgt. Pepper’s»-Cover, David Bowie schrieb Lyrics mit der «Cut-up»-Methode. Und 1991 trat David Cronenberg würdig den Beweis an, dass Burroughs Monster von einem Buch unverfilmbar ist.

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