Die Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» ist im Nationalrat durchgefallen. Die grosse Kammer sprach sich mit 134 zu 36 Stimmen und 12 Enthaltungen gegen die Initiative aus. Nur die SVP-Fraktion äusserte Sympathien für die Forderung, die Sexualerziehung zur alleinigen Sache der Eltern zu erklären.
Der Nationalrat sprach sich mit grosser Mehrheit gegen die Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» aus. «Die Initiative will ein Problem lösen, das gar nicht existiert», sagte Chantal Galladé (SP/ZH) im Namen der vorberatenden Bildungskommission. Die Sexualerziehung sei schon heute Sache der Eltern, werde aber vom schulischen Unterricht ergänzt.
Zudem machte Galladé auf allfällige Umsetzungsprobleme aufmerksam. Gemäss der Initiative soll Sexualkunde in der Schule erst ab dem vollendeten neunten Altersjahr unterrichtet werden dürfen, «Unterricht zur Prävention von Kindsmissbrauch» wäre aber schon ab dem Kindergarten möglich. Danach soll der Sexualkundeunterricht noch bis zum vollendeten zwölften Altersjahr freiwillig sein und nur vom Klassenlehrer erteilt werden.
Damit ergäben sich praktische Schwierigkeiten, wenn Kinder unterschiedlichen Alters in einem Klassenzimmer sässen, sagte Galladé. «Auch die Initianten konnten uns hier keinen Lösungsansatz liefern.»
Zweifel am Nutzen von Sexualkundeunterricht
Gemäss den Initianten werden die Kinder hierzulande in Kindergärten und Primarschulen «immer häufiger mit Pornografie und Sexualkundeunterricht belästigt». Dabei spürten die Eltern wohl am besten, wie viel das Kind über Sexualität erfahren wolle, sagte Verena Herzog (SVP/TG). Eine zu frühe Konfrontation mit dem Thema habe psychische Probleme zur Folge.
Es gebe keine Studien, die den Nutzen eines frühen Sexualkundeunterrichts belegten, sagte der Basler SVP-Nationalrat Sebastian Frehner. Er ist Co-Präsident des Initiativkomitees, in dem SVP-Parlamentarier wie Toni Bortoluzzi, Oskar Freysinger und Peter Föhn, aber auch der CVP-Nationalrat Jakob Büchler sitzen.
Koffer des Anstosses
In aller Munde war bei der Debatte am Mittwoch der sogenannte «Sex-Koffer» – auch wenn dieser schon längst wieder verschwunden ist, wie Maja Ingold (EVP/ZH) bemerkte.
Der besagte Koffer war in baselstädtischen Schulen zum Einsatz gekommen. Er enthielt Material für den Sexualkundeunterricht, an dem sich konservative Kreise aufrieben. Die Debatte über den umstrittenen Koffer im Jahr 2011 gab den Anstoss für die Initiative. «Der Basler ‚Sex-Koffer‘ war erst der Anfang», sagte Felix Müri (SVP/LU). Das Bundesamt für Gesundheit treibe die Sexualisierung beständig voran.
Auf der Gegenseite äusserte Hans-Peter Portmann (FDP/ZH) in einer launigen Rede die Vermutung, dass wohl auch seine Generation von einem «Sex-Koffer» profitiert hätte. Denn mehrere Parlamentarier hätten sich im Vorfeld der Debatte mit Verweis auf das «heikle Thema» gesträubt, das Wort zu ergreifen.
«Initiative unterstützt Pädophilie»
In den Augen der Gegner würde mit der im Dezember 2013 eingereichten Initiative die Missbrauchsprävention erschwert. Damit folgten sie der Argumentation des Bundesrats, der die Initiative ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung empfiehlt.
Der schulische Sexualkundeunterricht schütze Kinder und Jugendliche vor sexueller Gewalt, sexuell übertragbaren Krankheiten und unerwünschten Schwangerschaften, sagte Bildungsminister Johann Schneider-Ammann im Rat.
Prävention sei nur möglich, «wenn gewisse Dinge beim Namen genannt werden», sagte Chantal Galladé. «Tabuisierung und Prüderie ist kein wirksames Mittel gegen Missbrauch», sagte Martina Munz (SP/SH). Noch deutlicher wurde Aline Trede (Grüne/BE): «Die Initiative unterstützt die Pädophilie.»
Mehrere Redner liessen es sich nicht nehmen, auf eine unschöne Episode in der Geschichte der Initiative hinzuweisen: Nachdem bekannt geworden war, dass ein Mitinitiant einige Jahre zuvor wegen Kindsmissbrauchs verurteilt worden war, musste das Initiativkomitee die Unterschriftensammlung stoppen und in geänderter Zusammensetzung ein zweites Mal starten.
Falsches Bild von Sexualität korrigieren
Die Kinder hätten heute mit einem Mausklick Zugriff zu harter Pornografie, so der Tenor unter den Initiativgegnern. Der Sexualkundeunterricht könne das falsche Bild korrigieren, das den Kindern dadurch vermittelt werde, sagte Mathias Reynard (SP/VS).
In den Augen der Gegner vermindert das Volksbegehren zudem die Chancengleichheit. «In vielen Familien ist die Aufklärung noch immer ein Tabu», sagte Bernhard Guhl (BDP/AG). Diese Familien delegierten die Aufgabe an die Schule, weshalb der Sexualkundeunterricht dort nicht verunmöglicht werden dürfe. Mehrere Nationalräte warnten ausserdem vor einem Eingriff in die kantonale Schulhoheit.
Am Ende der dreieinhalbstündigen Debatte sagte Chantal Galladé: «Ein Land, das sich einen Nachmittag lang über Plüsch-Vaginas aufregen kann, ist ein glückliches Land.»
Nun muss sich noch der Ständerat mit der Initiative befassen.