MIt «Nebraska» präsentiert Alexander Payne eine langzeitbelichtete Schwarz-Weiss-Aufnahme. Endlich wieder Tiefenschärfe aus den USA.
Woody ist unruhig. Woody muss einen Werbe-Gewinn abholen. Davon lässt er sich auch von seiner Frau nicht gerne abhalten. Er hat das auf seine alten Tage verdient. Eine Belohnung. Jetzt schlurft er auf der Autobahn Richtung Geld.
Seine Frau hält Woody für nicht mehr zurechnungsfähig. Aber Woody ist noch fast zu fähig zu rechnen: Für eine Million will er einen Truck kaufen. Und den Kompressor, den er vor dreissig Jahren ausgeliehen hat, zurückholen. Auch sein Sohn muss einsehen, dass er Woody nur wird von dem irrwitzigen Plan abhalten können, indem er ihm hilft, ihn zu verwirklichen.
Fünf Oscar-Nominierungen gab es für «Descendants»
Der Regisseur Alexander Payne hat mit «Descendants» bewiesen, dass er Schauspieler zu grossen Leistungen animieren kann. Er ist einer der wenigen Regisseure Hollywoods, der Schauspielern lange zuhören kann, bis die Texte ihrer Figuren das Mehr preisgeben, das in ihnen steckt. Payne erlaubt uns, Schauspielern so lange zuzuschauen, bis in einer ihrer kleinen Haltungen eine ganz grosse Welt sichtbar wird. Payne ist einer der die passenden Drehbücher für diese Menschenwelt findet.
Aber nicht nur in der Körpersprache seiner Figuren ist der amerikanische Detaillist ein menschenverliebter Erzähler. Auch in seinen Bildern. Diesmal hat er sich für einen Film ganz in Schwarz-Weiss entschieden. Schwarz-Weiss strahlt Geschichte aus. Schwarz-Weiss schärft den Blick für Schattenseiten. Ausserdem hält Schwarz-Weiss in der Fotografie eines am besten fest: Die Zeit. Paynes Film «Nebraska» ist eine Reise in das Innere der Zeit.
Bilder mit bestechender Tiefenschärfe
Alexander Payne erzählt in geruhsamen Bildern eine Ballade, öffnet uns mit ihr das Auge für die feinen Schattierungen einer Welt, auf die selten eine Kamera gerichtet wird. Payne streift die Vergänglichkeit der Fassaden des verblichenen Wohlstandes, blickt hinter die Kulissen der Vergessenen, streift dabei filmgeschichtliche Oberflächlichkeit ab: Im Hinterland der USA findet er die Trümmer des amerikanischen Traums.
Woody will nämlich nur die Million, die ihm zusteht. In einer Gratis-Lotterie hat man ihm den Haupt-Gewinn bereitgelegt. Damit gewinnt sein Lebensabend nach all der Schufterei einen Sinn: Er muss sich holen, was ihm nach all der Plackerei für die anderen zusteht: Seine Belohnung.
Doch erst als sein Sohn David sich mit ihm auf den Weg macht, und seine Gattin Kate ihnen folgt, gewinnt die Sache Fahrt. Jetzt blättert Payne mit seinem grossartigen Hauptdarsteller Bruce Dern erbarmungslos im Familienalbum. Mit einer langen Belichtungszeit, wie es nur Schwarz-Weiss kann, holt er dabei die Geheimnisse der Vergangenheit in den Bildern mit aller Tiefenschärfe an den Tag der Gegenwart.
Eine Bestandesaufnahme des amerikanischen Niederganges im Hinterland
Wie klug dieses Filmgedicht geschrieben ist, machen nicht nur die entlarvend einfachen Dialoge deutlich. Wenn etwa Vater-Mutter-Sohn sich zu Essen bestellen, ist die Sprache knapp, das Missverständnis riesig und das Resultat fast albern: Ein Familienporträt von einfachen Leuten. Selten hat man Amerika besser in ein paar Zeilen zusammenfasst erhalten, wie im Gespräch der Männer über Autos. Selten sehen wir so knapp formuliert in den Abgrund der übertölpelten arbeitenden Bevölkerung.
Wie ein Gedicht komponiert Payne auch seine Reisebilder: Knappe Dialoge in Bildern, die mitreden. Wie nebenbei verkündet das Ortsschild «Billing» sichtbar, wo wir starten, am Ort der Rechenlegung. Von dort führt uns die Reise nach «Lincoln», zum Namensgeber einstiger amerikanischer Grösse. Die «City Limit» ist längst erreicht. Hierherher reicht nur der ferne Hall des Geldschluckers Wall Street: «See us for your home loan» lockt die Bankenfassade, hinter der längst nur noch Scheingeld verschoben wird. Fast jedes Bild chiffriert Hinweise auf den sichtbaren Niedergang im Hinterland.
Die Reise nach der Million
Bald ist die ganze Familie unterwegs zur Million. Bald nehmen auch alle um die Familie herum an der Reise zu der Million, die es nicht gibt, teil. Für eine Million hätte es sich wenigstens gelohnt, so dumpf gelebt zu haben. Mit dieser Million würde die Vergangenheit dieser Menschen einen neuen Sinn gewinnen. Doch das blosse Gerücht, dass Woody bald eine Million haben wird, weckt rund um ihn herum Begehrlichkeit. Allein eine Schein-Million ist in der Lage, Neider en masse anzulocken. Dass die Million nicht auf Woody wartet, wird bei diesem «Besuch des alten Herrn» in seiner Heimat immer unwichtiger.
Payne erzählt die traurige Ballade jener Generation von arbeitenden Menschen, die mit dem «Tod des Handlungsreisenden» noch optimistisch begann. Damals führte Miller den Aufbruch in eine Scheinwelt vor, die sich noch nach Wahrheit sehnte. Jetzt bleibt ist die Scheinwelt in der Wahrheit angekommen. Der Lack ist ab. Im Hinterland der USA herrscht Stillstand.
Das alles hat die Leichtigkeit der «Straight Story» von David Lynch. Das alles hat die Lebensfreude der «Sideways» von Alexander Payne. Payne nutzt in «Nebraska» aber auch die Tiefenschärfe, die er makellos beherrscht, um das amerikanische Erwachen aus dem Traum im Bild zu fassen. Vor siebzig Jahren lieferte Arthur Miller die erbarmungslose Analyse der falschen Hoffnungen. Payne dokumentiert heute die Ankunft am Ende der Hoffnungen. «Nebraska» bietet hierbei ein meisterhaftes Drehbuch um Zentrum: Für den alten, knorrigen Mann in der Mitte eine prachtvolle Spielwiese für eine leise Spielweise – Bruce Dern. Er humpelt brummelnd auf der genial dürren Textvorlage von Bob Nelson Richtung bittersüsses Ende. Das Gedicht einer ganzen Generation von Gutmütigen.