Triathlon-Olympiasiegerin Nicola Spirig kann für heute keine Medaillen-Garantie abgeben, obschon sie sich als bessere Athletin in allen drei Disziplinen als bei ihrem Triumph von 2012 betrachtet.
«Es kann sein, dass ich die maximale Leistung abrufen kann und dann nur Fünfte werde. Das würde mich aber dennoch befriedigen, wenn ich alles gegeben habe.» Aber als Goldmedaillengewinnerin von London und in ihrer aktuellen Form werde sie sicher versuchen, erneut um Edelmetall zu kämpfen.
Spirig ist zahllose Konstellationen durchgegangen, was den möglichen Rennverlauf anbelangt. Sie hat einen Plan A, B, C oder D. Weil sie im Vorjahr nicht am Testevent in Rio teilgenommen hatte, nahm sie vor allem auch den Radkurs zielgerichtet unter die Lupe. Sie ist die anspruchsvolle 5-km-Runde, die acht Mal zu bewältigen ist, gar einmal zu Fuss abgegangen.
«Mein Fokus wird darauf bestehen, das Tempo am ersten Hügel hoch, aber nicht übertrieben hoch zu halten, oben ebenfalls gut weiter zu drücken und über den zweiten Hügel durchzuziehen.» Der wie Spirig vierfache Olympia-Teilnehmer Sven Riederer warnte nach dem Männer-Rennen vor der Abfahrt. Riederer: «Die ist technisch enorm anspruchsvoll. Zweimal wäre ich fast gestürzt.»
2012 in London hatte es im Frauen-Rennen geregnet, einige Athletinnen rutschten in den Kurven beim Radfahren prompt weg. Damals hielt sich Spirig nach einem starken Schwimmen von Beginn an vorne im Feld auf, um nicht in einen Sturz mitgerissen werden zu können. Nachdem es Anfang Woche noch nach einem Sturm für den Wettkampf der Frauen (ab 16.00 Uhr) ausgesehen hatte, änderten sich die Prognosen mittlerweile. Angesagt ist ein Hitzetag mit Temperaturen um die 35 Grad.
Solo-Aufholjagd wäre Knacknuss
Die anspruchsvollste Rennkonstellation für Spirig wäre in Rio ohne Zweifel jene, wenn sie nach dem Schwimmen die Aufholjagd wieder einmal allein orchestrieren müsste. Diesmal aber hinter einer wohl gut harmonierenden Schwimm-/Rad-Spitzengruppe. «Es gibt drei, vier Athletinnen, die sehr gut schwimmen und stark Radfahren. Dann würde es sehr schwierig, diese einzuholen.»
WM-Leaderin Flora Duffy, die amerikanische Nummer 2 Katie Zaferes, die Britin Helen Jenkins und die Niederländerin Rachel Klamer sind beispielsweise in der Lage, auf ein starkes Schwimmen den Vorsprung auf die nachfolgenden Athletinnen im Radfahren zu vergrössern. Und die gute Schwimmerin und enorm starke Läuferin, die zweifache amerikanische Weltmeisterin Gwen Jorgensen, könnte da allenfalls im Windschatten mitfahren.
Ausserhalb der Top 10 kann in der zweiten Disziplin keine Athletin auch nur ein annähernd so hohes Tempo fahren und durchziehen wie Spirig. Und kaum eine aus dieser zweiten Reihe wird überhaupt länger den Windschatten von Spirig halten können.
Sutton: Spirig für Duell gegen Jorgensen gerüstet
Spirig verfügt dennoch über ausreichend Substanz, selbst nach einem 40-km-Effort auf dem Rad noch ein Ausscheidungsrennen mit Jorgensen mitzulaufen. Sutton: «Und liegen dann 400 Meter vor dem Ziel beide noch gleichauf, bin ich sehr zuversichtlich.»
Wer Spirig bei Bahntrainings in St. Moritz beobachtet hat, kann dies nachvollziehen. Nach zig Kilometern Intervall-Training war unglaublich, welch enorm hohe Beschleunigung sie bei abschliessenden Steigerungsläufen über 100 oder 200 Meter erreichte.
Kein Wunder, dass es zuletzt sogar zu einem Engpass bei ihren Pacemakern kam. Als der laufstarke Matt Trautman, ein Ironman von internationalem Top-Format, vor einigen Wochen einen Ermüdungsbruch erlitt, war Suttons aufstrebender Youngster Reiny Brown einer der wenigen verbliebenen Männer, der für die auch ungemein tempofeste Spirig auf der Bahn überhaupt noch die Pace machen konnte.
«Nicola Spirig hat einen Trainingszustand erreicht, den ich selbst niemals hatte. Ihr Level ist beeindruckend», sagt Christoph Mauch. Der Sportchef von Swiss Triathlon gewann in seiner Aktivzeit den Ironman Switzerland (2005) und war an der Ironman-WM auf Hawaii unter anderem zweimal Vierter (1998 und 1999).
Sohn Yannis spürt die Anspannung
Dabei hat die 34-jährige Spirig noch drei Platten und 23 Schrauben in der linken Hand, herrührend von der Operation nach ihrem unverschuldeten Sturz im Rennen der WM-Serie von Abu Dhabi Anfang März. Ein erneuter Triumph wäre schon alleine deshalb eine unglaubliche Geschichte.
Doch damit nicht genug: Sollte Spirig erneut gewinnen, wäre sie laut dem Triathlon-Weltverband ITU erst die dritte Frau, die nach einer Schwangerschaft erneut Olympia-Gold bei Sommerspielen gewinnt. Spirigs knapp dreieinhalbjähriger Sohn Yannis fühlt laut der Mutter die Anspannung: «Er weiss vielleicht noch nicht, dass es sich um Olympia handelt oder was das ist. Doch er spürt, dass ein grosses Rennen bevorsteht.»
Annen nimmt Top 25 ins Visier
Im Schatten von Nicola Spirig geht mit Jolanda Annen eine zweite Schweizer Triathletin an den Start und feiert dabei ihr Olympia-Debüt.
Die 23-jährige Urnerin hat sich eine Top-25-Rangierung vorgenommen, nachdem sie im Vorjahr beim Olympia-Testevent in Rio de Janeiro Rang 22 belegt hatte.
Annen bereitete sich zuletzt im Land des Olympia-Gastgebers auf ihren Einsatz in Rio vor. «Mein langfristiges Ziel wird Tokio 2020 sein. Dort erhoffe ich mir ein olympisches Diplom», so Annen.