Prost, Prost, Prost und noch einmal Prost! In der Zeit um Neujahr wird getrunken, als gäbe es kein Morgen mehr. Die Folgen sind schrecklich. Umso unbegreiflicher, dass eigentlich anständige Institutionen wie Avenir Suisse die Apérokultur noch als wesentlichen Wettbewerbsvorteil der Schweiz darstellen. Darum an dieser Stelle eine möglicherweise etwas allzu nüchtern geratene Kampfschrift wider das Cüpli.
Mein Gott, ist diese Zeit um den Jahreswechsel anstrengend! Ein Apero folgt dem anderem, und immer muss man sich durch Reihen von Cüplis und Berge von Canapés kämpfen. Schrecklich! Das Schlimmste ist, dass man schon im Voraus weiss, was auf einen zukommt. Trotzdem versucht man, stark zu sein. Heute höchstens ein Cüpli!, sagt man sich. Und keinen weiteren Blödsinn – weder trinken, noch sagen!
Wahrscheinlich halten es alle so. Darum ist die Stimmung bei den Aperos zu Beginn auch immer so verkrampft. Bloss nichts Unvernünftiges von sich geben! Lieber belanglos daherreden (über Kinder, über Hunde, über Männer) oder versuchen, Hochgeistiges von sich zu geben, selbst wenn es um banale Themen wie das Wetter geht («da schlägt jetzt eben der Klimawandel durch»). Und zur Not kann man auch mal schweigen. Denn was gibt es auch zu sagen, wenn man selber daheim gerade Ärger hat und sich nun von der Nachbarin anhören muss, wie nett ihr Söhnchen, wie nett ihr Töchterchen und wie nett ihr Hundelihundeli ist.
Das Dumme ist, dass einfach nur Schweigen nicht geht. Spätestens wenn die Nachbarin ihren mühsamen Mann noch mehr lobt als ihre mühsamen Goofen und den mühsamen Kläffer, muss man all das Böse, das einem auf der Zuge liegt, herunterspülen. So kann es kommen, dass das erste Cüpli schon bald leer ist. Das ist dann mysteriöserweise häufig der Moment, in dem man unvermittelt jenes Glas in der Hand hält, das man eigentlich gar nie wollte. Das zweite. Und so geht es weiter. Mit einem dritten, vierten – oder ists gar schon das fünfte?
Höchste Zeit eigentlich, um heim zu gehen, ins Bett. Blöderweise werden nun aber die Gespräche interessant. Man erfährt Neues, wer mit wem und wer mit wem nicht mehr. Oder noch besser: man entdeckt, was auf wen zukommt. Ein Kind zum Beispiel. Mit solchen Entdeckungen kann man es an einem Apero zur Meisterschaft bringen.
Ausgerechnet mit dem! Aber der Letzte war ja auch nicht besser!
Denn in der Phase früher Schwangerschaften sind die Frauen noch ausgebuffter als ohnehin schon. Da ist ihnen jedes Mittel recht, um ihr Geheimnis zu wahren. Immer und immer wieder nippen sie an ihrem Glas, bis auch der Hinterstletzte den Eindruck hat, sie würden gleich viel trinken wie immer. Dann warten sie auf einen unbeobachteten Moment, in dem sie den Champagner schnell, schnell in das Glas ihres Mannes kippen, dieses armen Kerls, der möglicherweise schon bis anhin zuviel getrunken hat und nun plötzlich die doppelte Menge zu sich nehmen muss. Meistens ist denn auch er der Schwachpunkt in dem ganzen Lügengebilde. Wenn sein Lächeln erst vom dezent Verschwörerischen ins Dämliche und schliesslich ins offensichtlich Verzweifelte kippt, weiss man: aha, auf diesen Mann kommt noch einiges zu.
Was für ein Thema! Jä näi aber au! Jetzt hat die doch ausgerechnet mit dem! Aber der Letzte war auch nicht besser! Da hat das arme Kind also fast noch Glück gehabt! He, he! So geht das weiter, bis spät am Abend, es sei denn, man muss noch an einen zweiten Apero. Das ist zwar verheerend, hat aber immerhin den Vorteil, dass man beim Wechseln der Lokalität wenigstens einmal kurz an die frische Luft kommt.
Der Tag danach im Büro ist so oder so schlimm. Dabei müsste man ja häufig vorwärts machen – wegen des nächsten Aperos, der garantiert schon bald beginnt. Schrecklicher als schrecklich!
Ist die Schweiz tatsächlich nur wegen der Aperos so erfolgreich?
Nun könnte man die ganze, traurige Geschichte als Einzelschicksal abtun. Doch Vorsicht! Das hiesse das Cüpli unterschätzen, dieses böse, kleine Ding, das sich nie ganz tilgen lässt, sondern immer wieder auftaucht, hydragleich, manchmal sogar doppelt und dreifach. Umso erschreckender, dass selbst scheinbar anständige Institutionen wie Avenir Suisse das Problem nicht wahrhaben wollen. «Wer gerne an Aperos geht, ist nur effizient», zwitscherten die grossen Wirtschaftsförderer kurz vor Weihnachten, als hätten sie selber eben einen über den Durst getrunken.
Auf ihrer Internet-Seite versucht Avenir Suisse den unbedachten Tweet nun sogar noch argumentativ zu stützen. Die «Schweizer Aperokultur» sei ein «weit verbreitetes Instrument der Netzwerkbildung», heisst es dort. In modernen Wissensgesellschaften erlaubten diese Netzwerke oft eine wesentlich effizientere Organisationsform als Hierarchien oder starre Institutionen. Darum sei, so Avenir Suisse weiter, die Apéro-Kultur ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil der Schweiz.
Kein einziges Wort über die Gefahren! Über den Alkoholismus! Das ist ein Tabu in der Schweiz. In Deutschland hatte mit dem Bundestagsabgeordneten Andreas Schockenhoff wenigstens ein Politiker den Mut zu sagen: «Ja, ich bin alkoholkrank.» Im «Berliner Trinkbetrieb» sei er längst nicht der einzige, der mehr Alkohol vertilgt als ihm gut tut, stellte der Spiegel danach fest. Viele Politiker seien gefangen in einem «Zwangssystem aus Terminen» und einer «Menge Alkohol». Immer im Stress und häufig in Versuchung, den vielen Stress mit noch mehr Alkohol abzubauen, wie eine Insiderin dem Magazin sagte.
Erschreckend ist das vor allem in der heutigen Situation, in der es um alles und nichts geht. Da müssen die scheinbaren Weltenretter in Berlin, Paris, Brüssel, Washington oder wo sonst auch immer nur einmal ein Null zu viel oder zu wenig auf irgendeinen wichtigen Erlass zur Erweiterung der Geldmenge kritzeln und schon gehen die Banken pleite oder verbrennen die Vermögen in der Mutter aller Inflationen.
Kann man diese Verantwortung einem Trinkbetrieb überlassen? Keinesfalls, wenn es schon bei nüchternem Verstand fast nicht mehr möglich ist, den Überblick über die vielen Nullen im Finanzwesen zu wahren! Darum muss Schluss sein mit den Aperos! Am besten sofort.
PS: Ehrlich gesagt: auf zumindest noch einen, allerletzten Apéro vor der allgemeinen Abschaffung würde ich mich schon noch freuen. Einen passenderen Rahmen, um über die Gefahren des Cüplis zu plaudern, ist jedenfalls nur schwer vorstellbar. Da wären einige lustige Gespräche garantiert. Vor allem recht, nach dem zweiten oder dritten Glas.