Vom Schrotthändler zum Schlagzeilenlieferanten: Jake Gyllenhaal gibt im Kino den «Nightcrawler», einen Boulevardjournalisten, der für eine krasse Story bis zum Äussersten geht.
Zu Beginn des Film ist Lou (Jake Gyllenhaal) ein Dieb. Er setzt einen Satz des französischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon kompromisslos in die Praxis um: «Eigentum ist Diebstahl». Er klaut Altmetall. Er klaut Draht. Er klaut Gullis. Und er verkauft das so angeeignete Eigentum weiter.
Lou lebt online – will sagen: allein. Keine echte Freundin, keine echten Freunde, keine echte Freundlichkeit. Für einen Augendoppelklick flirtet er mit seiner Chefin. Lous Gesetz des Handelns ist der Handel. Je nach Angebot und Nachfrage erhält er für das Diebesgut mal mehr, mal weniger.
Als Lou per Zufall Zeuge wird, wie die Kameramänner für die News eines Privatsenders die Bergung eines Verkehrsopfers filmen, wird ihm klar, dass er eine ganz andere Nachfrage nach Gebrauchtware befriedigen könnte: Er steigt von Schrott auf News um.
Vom Schrott zur Schlagzeile
So gross ist der Schritt gar nicht. Als «Nightcrawler» schlägt er sich fortan die Nächte statt für Schrott für die Schlagzeile des Tages um die Ohren. Er tut das, was Bert Brecht an den Journalisten in den Staaten als Erstes auffiel, als er in den Dreissigerjahren nach Amerika floh: Sie verhökern «Gedanken an den Meistbietenden». «Nightcrawler» bringt Boulevard-Journalismus auf den heutigen Punkt: «Dein Job ist es, den Tweet des Tages zu machen».
Bald ist auch Lou einer von den Privat-TV-Jägern, die Jagd nach dem ultimativ schlagkräftigsten Bild machen. An das Gesetz hält er sich auch hier nicht: Als News-Filmer kennt er nur das Gesetz des News-Gathering: Schlagzeilen müssen Verkaufsschlager sein.
Je brutaler, desto besser für die Quote. Für das Bild eines frischen Tatorts nutzt er auch gerne mal die Intimsphäre anderer. Doch wie früher der Schrott, wollen auch die News-Bilder erst einmal verkauft werden.
Da lernt Lou Nina (Rene Russo) kennen. Nina ist News-Redaktorin bei einer Privatfernsehstation. Sie ist genau die Mischung von Geilheit und Highsein, die er sucht: Sie wird seine Produzentin.
Nina ermutigt Lou, immer noch näher an die Verbrechen heran zu gehen, noch früher da zu sein, bis er – in voraussehbarer Logik des Films – selber zum Arrangeur eines Verbrechens wird. Bis er zum Schluss jenen Mord vor die Kamera kriegt, den er selber begeht.
Dabei ist Lou kein naiver Täter. Auf einem Grossbildschirm im Studio betrachtet er ein Bild der Stadt, die sein Jagdrevier ist, und sagt: «Im TV ist sie viel wirklicher». Lou weiss, dass er längst nicht mehr über die Wirklichkeit berichtet. Er verkauft den Menschen als Wirklichkeit, was sie ihm abkaufen wollen. Er nutzt dazu die Quotengesetze der Privatfernsehstationen.
Von der Schlagzeile zum Schlagstock
Regisseur Dan Gilroy («Bourne Vermächtnis») hat mit «Nightcrawler» einen leicht vorhersehbaren News-Thriller kreiert. «Nightcrawler» ist aber auch ein schmissiger Mainstream-Film über das Entstehen und Abbild der Wirklichkeit.
Lou wird am Ende von seiner eigenen Logik eingeholt. (Spoiler-Alarm) Der Jäger des mörderischen Augenblicks wird selber zum Mörder. Lou steigt damit in eine andere Liga auf. Auf dem Weg zu einem Medienmogul entschwindet er dem Bild.
Das ist alles noch nicht wirklich ein Grund, den Film zu sehen: Den liefert definitiv einer der begabtesten Schauspieler Hollywoods. Wer ihn bei der Arbeit sehen will, kriegt viel Stoff. Jake Gyllenhaal erweckt mit Lou einen Felix Krull zu neuem Online-Leben: «Ich habe alles was ich kann, online gelernt. Ich weiss, wie man nach oben kommt».
Gyllenhaal stellt perfekt ein Onlinekind dar: Jeder Augenklick öffnet ein neues Facedesign. Gefühle werden gescrollt. Jedes Widget sitzt. Er spielt den fischigen Newsgatherer mit kalten Lippen, ausweichendem Augenflunkern, und in einem permanenten, eiskalten Konjunktiv.
Immer wenn es bei seiner Figur zu Gefühlen kommt, weicht Gyllenhaal in die Möglichkeitsform aus: «Ich will ihnen damit nicht sagen, dass ich sie jetzt ficken möchte, obwohl, ich könnte es sagen, aber tue es nicht, auch wenn Sie es so verstanden haben möchten: Ich habe es nie gesagt!»
Was die Produzenten von «Nigthcrawler» («Drive») gut können, ist: Ein gerissenes Drehbuch in oft gesehene Action verwandeln. So bleibt «Nightcrawler» eher ein «Déjà-Vu». Etwa so sah das 1969 mein Lieblings-Dichter Dadasius Lapidar:
ICH lese Blick
Weil blick sieht
wenn verborgen
übermorgen
meuchelmord
geschieht
ob fern tatort
blickjournalist
ist
lang vor mord dort
(Aus: «meine schreibe hat bleibe», 1967, von dadasius lapidar (dessen Leben im Dunkeln liegt, wo es auch bleiben soll, wie er selber sagt …)