Sex, Drogen und Disco: Nile Rodgers (59) hat ausschweifend gelebt. Der Hit-Produzent und Songwriter (Chic, Diana Ross, David Bowie) erzählt, wie ein «Fuck Off» zu seinem Hit «Le Freak» führte. Freimütig schildert er auch, wie er Madonna bei den Aufnahmen zu «Like A Virgin» abwimmeln musste –und wie ihm ausgerechnet Keith Richards half, clean zu werden.
Er hat ein lustvolles Leben geführt – aber wie viele hedonistische Stars auch immer wieder den Tod vor Augen gehabt: Nile Rodgers, der Gründer von Chic. Vor seinem Gastspiel an der AVO Session Basel traf ihn die TagesWoche zum Gespräch. Der 59-jährige Gitarrist gehört zu den grössten Musikproduzenten des 20. Jahrhunderts: Er prägte in den 70er-Jahren die Disco-Ära als treibende Kraft hinter Chic («Good Times») und Sister Sledge («We Are Family»), verhalf in den 80er-Jahren Leuten wie Diana Ross («Upside Down») und David Bowie («Let’s Dance») zu grossen Comebacks und führte junge Talente wie Duran Duran und Madonna zum Durchbruch. Jetzt hat der 59-Jährige New Yorker seine eindrückliche Autobiografie veröffentlicht.
Nile Rodgers, schön, dass Sie zurück in der Schweiz sind. Noch vor wenigen Monaten kämpften Sie gegen eine Krebserkrankung an. Haben Sie Ihre Memoiren geschrieben, nachdem Ihnen Ihre eigene Vergänglichkeit bewusster geworden ist?
(0.45) Ja, der Tod hat mich umgeben. Als ich an Krebs erkrankte, wusste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte. Also startete ich einen täglichen Internet-Blog, weil ich Kontakt zu anderen Leuten suchte, die Ähnliches durchmachten. Für diesen Blog grub ich auch altes Material aus, darunter ein Foto mit den Kernmitgliedern der Chic-Organisation. Dabei realisierte ich, dass vier von fünf Mitglieder verstorben sind: Luther Vandross, Raymond Jones, Tony Thompson und Bernard Edwards. Der einzige auf diesem Bild, der noch lebt, bin ich. Im Rock-Geschäft ist der Tod fast so allgegenwärtig wie die Möglichkeit, einen Plattendeal zu verlieren. Es war mir daher wichtig, all meine Erinnerungen festzuhalten.
Derzeit treten Sie wieder mit Chic auf. Wenn man bedenkt, wie viele Tantiemen Sie als Songwriter für unzählige Pop- und Discoklassiker erhalten: Ist Chic daneben ein Hobby für Sie?
(02:16) Es ist ein wundervolles Hobby, das ich sehr ernst nehme. Ich könnte nicht von Chic alleine leben, wir arbeiten dafür nicht genug, machen keine langen Tourneen und veröffentlichen keine neue Musik. Es macht einfach riesigen Spass, meine Hits mit einer grossartigen Band zu spielen und dafür vom Publikum gefeiert zu werden. Es war mein Kindheitstraum, eines Tages rauszugehen, auf die Bühne zu stehen und Lieder zu spielen, die ich entweder geschrieben oder produziert habe. Und heute könnte ich selbst nach einer vierstündigen Show noch einmal so lange weiterspielen, ohne dass mir das Songmaterial ausginge.
Und worin liegt der Reiz für Sie dann, die Musik anderer Leute zu produzieren?
(03:27) Nun, ich bringe mich musikalisch ein, schreibe Arrangements, spiele zum Teil auch selber mit. Und selbst wenn ich diese Fähigkeiten nicht hätte, fände ich den Job interessant: Wie ein Filmregisseur trage ich die Verantwortung für ein Projekt, bin verantwortlich für das Budget, für die musikalischen Leistungen, die Aufnahmen und Technik. Ich heuere alle Leute an, die es für eine CD-Produktion braucht. Es ist eine grosse Verantwortung – für die ich wie geschaffen bin.
Tatsächlich?
Absolut, ja.
Längst nicht alle Musiker mögen sich mit Budgetfragen und Buchhaltung herumschlagen.
(04:18) Ich bin grossartig darin (lacht). Mir gehört eine Vertriebsfirma. Und keiner meiner Angestellten dort hat einen Bezug zu Kunstformen, im Gegenteil, alle Mitarbeiter dort kommen aus der Finanzverwaltung. Das macht Sinn, weil eine Vertriebsfirma ja wie eine Art Bank funktioniert.
Dass Sie ganzheitlich denken, erfährt man auch in Ihrer Autobiografie: Bei der Gründung von Chic schwebte Ihnen ein klares Konzept vor. Inspiration holten Sie sich von weissen Rockbands wie Roxy Music und Kiss. Suchten Sie wie Berry Gordy von Motown einen Weg, wie man mit schwarzer Musik die weisse Masse erreichen konnte?
(06:13) Was mich an Roxy Music verblüffte, als ich sie erstmals live sah, war ihr modisches Auftreten, ihr Stil – und die Tatsache, dass das Publikum diesen übernommen hatte. Ich erzählte Bernard (Edwards, Bassist von Chic und Co-Songwriter, die Red.) von dieser völlig integrativen, künstlerischen Erfahrung. Es war vergleichbar mit dem Besuch eines Museums: Man tritt ein, schliesst hinter sich die Tür und taucht tief in diese Welt ein. So fühlte sich das für mich an, als ich Roxy Music sah: Als würde ich in ihre Welt eintauchen, in diesen Karneval, den sie da veranstalteten. Als wir Kiss sahen, deren Gitarrist Ace Frehley mit unserem Keyboarder befreundet war, wirkte das durch ihr Make-Up noch stärker wie eine Karnevalsshow. Das inspirierte uns dazu, für Chic einen Rahmen zu bauen, in den wir uns hineinsetzen konnten. Also beschafften wir uns modische Designer-Anzüge, und das, obschon wir im Grunde arm waren. Schaut man sich die Hip-Hop-Bewegung an, sieht man das ja heute noch: Die Hip-Hopper prahlen mit Sachen, die sie noch gar nicht erreicht haben, reden von ihrem Maybach, von ihrem Geld, ehe sie überhaupt einen Plattendeal haben. Einige wenige mögen zuvor schon zu Geld gekommen sein, als Drogen-Dealer etwa, aber die meisten spielen mit der Fantasie. Und das war Chic, ein Rollenspiel: Wir legten die Konzepte von Roxy Music und Kiss zusammen und färbten sie schwarz ein.
Sie haben den Eskapismus angesprochen: In Ihrem Buch erfährt man, dass Sie «Le Freak» schrieben, nachdem Ihnen der Eintritt in die legendäre New Yorker Disco «Studio 54» verweigert worden war.
(09:38) Ja, genau. Grace Jones hatte uns zu ihrem Auftritt eingeladen und uns erklärt, dass wir zum Künstlereingang kommen sollten. Als wir dort eintrafen, schaute uns der Türsteher an und sagte: «Fuck Off». Bernard und ich kamen nicht in den Club, fuhren zurück in mein Appartment und begannen dort auf Gitarre und Bass zu jammen (imitiert die funky Gitarrenmelodie) … dann improvisierte ich dazu einen Gesang: «Aaaaah, fuck off! Fuck Studio 54!» Wir bauten das aus, fügten einen Mittelteil hinzu und es klang fantastisch. Bernard sagte: «Wir müssen das in einen richtigen Song verwandeln.» Also änderten wir die Wörter, zuerst in «Freak Off!», dann in «Freak Out!», was perfekt klang.
Was war das abgefahrenste, freakigste Erlebnis, das Sie mit dem Studio 54 verbinden?
(11:35) Jede Nacht dort war freaky. Es kam einem vor, als würde Federico Fellini einen Nachtclub betreiben, in dem Salvador Dali als Art Director waltet und Picasso am Haupteingang steht. Es war ein wundervolles, lebendiges Kunstexperiment voller Menschen, Musik, Tanz und Sex. Es war Sodom und Gomorrha. Das Studio 54 stellte alle anderen angesagten Clubs in den Schatten: Es war sexier als der Swinger-Club Plato’s Retreat, cooler als der Playboy Club und moderner und hipper als Chez Regine. Das Studio 54 wollte Zentrum des Disco Universums sein, was auch perfekt gelang, besser als jedem anderen Club auf dieser Welt. Und glauben Sie mir: Ich habe jeden anderen Club der Welt besucht (lacht).
Wurden all die Verlockungen gefährlich für Sie?
Ja, aber mein hedonistischer Lebensstil wurde für mich erst viel später, in den 90er-Jahren, zu einer Gefahr. Ich erlitt mehrere Herzstillstände, akute Alkoholvergiftungen … ich stand einige Male auf der Schwelle zum Jenseits. Aber das beängstigte mich nicht. Was mich wirklich beunruhigte war, als ich 1994 in Miami Beach Madonnas Geburtstagsparty besuchte. Ich erinnere mich selber nicht mehr daran, aber die Geschichte wurde mir danach so erzählt: Ich war der letzte Gast. Madonna – eine gute Freundin und die grösste Künstlerin, mit der ich je zusammengearbeitet habe – bat mich, noch zu bleiben, weil sie nicht allein sein wollte. Offenbar trugen mich Leute später in mein Hotelzimmer. Und als diese gegangen waren, ging ich nochmals aus, um weiterzufeiern. Was schliesslich zu einer Kokain-Psychose führte. Ich hörte Stimmen, die nicht da waren, glaubte, ich sei verrückt geworden und wusste, dass ich so nicht mehr Musik machen könnte.
Also stieg ich in ein Flugzeug nach New York und lieferte mich in einer Entzugsklinik ein. Im Flugzeug las ich zufällig in einem Heft ein Interview mit Keith Richards von den Rolling Stones. Mein Freund und Nachbar, er lebt ein Dorf weiter in Connecticut. Im Artikel stand, das Keith keine Drogen mehr nehme, weil ihm der Konsum die Fähigkeit nehme, Musik zu machen. Zum gleichen Schluss war auch ich für mich gekommen und sagte mir: Wenn er ohne Drogen leben konnte, nicht aber ohne die Musik, dann schaffe ich das auch.
Als ich nach acht Monaten aus der Klinik entlassen wurde, erhielt ich einen Anruf: Es war Keith Richards, der mich fragte, ob ich zufällig Koks habe. Ich dachte mir: Wie ironisch! Seine Aussagen hatten dazu beigetragen, dass ich meine Sucht besiegte. Und am ersten Tag zurück in der Freiheit fragt er mich nach Drogen. Diesen grossen Test musste ich bestehen. Was mir gelang.
Sie haben zuvor Madonna erwähnt, mit der Sie 1984 «Like A Virgin» aufnahmen. Konnten Sie ihrer «Jungfräulichkeit» widerstehen?
(16:20) (lacht) Madonna war längst keine Jungfrau mehr, als ich mit ihr zusammenarbeitete. Es gibt dazu eine lustige Geschichte: Als wir eines Abends das Studio verliessen, fragte sie mich: «Nile, findest Du mich eigentlich sexy?»
Ich antwortete: «Madonna, natürlich! Du bist eine der schärfsten Frauen, die ich je getroffen habe!»
«Warum willst Du mich dann nicht ficken?»
«Weil ich Dein Produzent bin.»
«Das hielt die anderen vor Dir auch nicht davon ab!»
Doch im Unterschied zu den Produzenten, mit denen Sie zuvor zusammengearbeitet hatte, konnte ich schon auf eine lange Liste an Hits zurückblicken, hatte mit mehreren Frauen erfolgreich zusammengearbeitet. Sister Sledge, Diana Ross, Debbie Harry. Bereits zuvor, am Anfang meiner Karriere, hatte ich erkannt, dass Affären im Studio vermieden werden sollten, weil diese zu einer unangenehmen Arbeitssituation führten. Und gerade weil die Zusammenarbeit mit Madonna grossartig war: Das letzte, was ich hätte tun wollen, war …
… dieses Arbeitsverhältnis aufs Spiel setzen …
(18:20) Ja. Ich bewundere Madonna noch immer. Ich erkenne sie zwar heute nicht wieder, weiss aber, was unter dieser Maske steckt: eine wunderbare Person. Das war sie schon damals, jung zudem, ich nahm die Offerte daher gar nicht ernst. Ich war schlau genug, mich nicht darauf einzulassen. Interessanterweise haben sich einige weibliche Künstlerinnen gewundert, dass ich ihnen während der Plattenproduktion keine Avancen gemacht habe. Nun müssen Sie sehen: Ich wuchs mit der Bürgerrechtsbewegung auf, mit der Gleichstellung von Frauen und Männern und Homosexuellen. Meine Künstlerinnen aufzureissen, entsprach gar nicht meinem Instinkt. Das hätte sich doch wie sexuelle Belästigung angefühlt. Zudem hatte ich das ja auch gar nicht nötig: Ich hatte damals eine Million Freundinnen, ging jede Nacht auf Partys, warum sollte ich also mit meinen Künstlerinnen schlafen?
Nile Rodgers: «Le Freak», Spiegel & Grau/Random House, New York, 2011.
318 Seiten, zahlreiche Fotos. Vorerst nur in englischer Sprache erhältlich.