«Wir Gottlosen», schrieb Redaktor Philipp Loser und widmete sich der jüngsten Generation, die als erste mehrheitlich ohne religiöse Erziehung aufwächst. Pfarrer Antonio Grasso sieht nicht die Beziehung zu Gott in der Krise, sondern die Kirche. Sie habe ihre Aufgabe aus den Augen verloren.
Wir befinden uns offensichtlich in einer sich schnell wandelnden Zeit, die vom Übergang von einer stark christlich orientierten Gesellschaft in eine säkularisierte Gesellschaft gekennzeichnet ist. Der von der Tradition stammende soziale und religiöse Druck fällt weg und der Einzelne steht orientierungslos da. Neben der Orientierungslosigkeit birgt diese Situation aber mehr Bewusstsein und Verantwortung für das Individuum.
Gastkommentar zum Artikel: «Wir Gottlosen». Antonio Grasso ist Pfarrer der «Pfarrei für Italienisch Sprechende» in Basel.
Er hat mit einigen Mitarbeitern unseren Artikel eingehend besprochen und schreibt: «Es freut mich zu sehen, dass die Presse sich solcher Themen annimmt und möchte gerne einen Beitrag zur Diskussion leisten.»
Die Krise betrifft vor allem die Generation der 40- bis 50-Jährigen, die vor der Aufgabe steht, den eigenen Kindern Orientierung und Antworten zu geben, aber auch zu den zahlreichen kulturellen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit Stellung zu nehmen. Die Religion war immer ein fester Bezugspunkt und sie wird es, nach meiner Meinung, immer sein.
Nicht die Beziehung zu Gott ist in der Krise
Ich denke nicht, dass der Mensch «gottlos» leben kann, gleich wie wir Gott nennen wollen. Die Dimension des Transzendenten ist mit den Kulturen aller Zeiten eng verflochten, folglich auch mit unserer. Das Bedürfnis nach der Berührung mit einer Entität des «Andersartigen», mit dem Transzendenten, ist dem Menschen angeboren, gleich wo er sich temporell und lokal befindet. Die rein materielle und menschliche Dimension reicht nicht aus.
Die Krise, von der ich spreche, betrifft aber nicht die Beziehung zu Gott, sondern vielmehr die Fähigkeit der vermittelnden Institutionen, sich zu erneuern (die TagesWoche hat dem Thema einen Schwerpunkt gewidmet: «Nur den Glauben nicht verlieren»). Der christliche Glaube hat eine lange Tradition hinter sich. Wie Sie wohl wissen, hat alles mit den Lehren Jesu angefangen. Das Problem liegt darin, dass mit den Jahrhunderten der christliche Glaube mit Strukturen aller Art befrachtet worden ist.
Das Problem liegt darin, dass mit den Jahrhunderten der christliche Glaube mit Strukturen aller Art befrachtet worden ist.
Die Schönheit und Unmittelbarkeit der ursprüngliche Botschaft sind betrübt worden und werden manchmal nicht mehr erkannt. Wir alle suchen nach Antworten auf die grossen Fragen betreffend existentielle Themen wie Liebe, Glück, Leben und Tod, Leiden oder Jenseits. Die Verbreitung verschiedener Formen «selbstgemachter Religion» zeigt, dass die Suche nach dem Lebenssinn nach wie vor in der Menschheit herrscht. Was fehlt sind die festen Bezugspunkte. Als Reaktion entwickelt sich der religiöse Synkretismus.
Solche Themen sind nicht Monopol der christlichen Religion, sondern ein Anliegen für jeden Mann und jede Frau. Als Christen, Katholiken, Reformierte, haben wir bereits die Antwort. Wir finden sie in den Evangelien, in der Botschaft Jesu.
Noch ist nichts verloren
Die religiöse Überzeugung, die der heutigen Erwachsenengeneration in Vergleich zu der vorangehenden Generation fehlt, ist die Folge einer missglückten Neuformulierung der Glaubensinhalte. Die Folge davon sind Orientierungslosigkeit und ein sich verbreitender Relativismus. Noch ist aber nichts verloren! Wir können immer wieder neu beginnen, ohne alte Mechanismen und Schemata zu wiederholen und vor allem ohne «christliche Fundamentalismen» zu generieren.
Meiner Meinung nach sollten wir heute die Verbindung zwischen Glauben und Leben wieder herstellen, zwischen dem was wir in der Bibel lesen und unserem Alltag. So werden wir Gott in uns spüren und nicht weit weg von uns.
Die Logik, wonach die Kinder später selber entscheiden sollen, in was sie glauben wollen, teile ich nicht. Das funktioniert nicht bei den menschlichen Fragen und wird auch bei den spirituellen Anliegen nicht funktionieren. Jeder Vater und jede Mutter sind von Anfang an bemüht, ihren Kindern allmählich die Werte und Prinzipien zu vermitteln, in denen sie selber glauben, so zum Beispiel den Unterschied zwischen Gutem und Bösem oder die Wertung richtig oder falsch.
Die Logik, wonach die Kinder später selber entscheiden sollen, in was sie glauben wollen, teile ich nicht.
Jeder Erwachsene gibt den eignen Kindern und Heranwachsenden Anhaltspunkte und Regeln weiter. Auf der gleichen Art und Weise sollte jede und jeder die eigenen spirituellen Überzeugungen weitergeben, wohl im Wissen, dass die Kinder später, als Erwachsene, ihren eigenen Weg gehen werden.
Und nun komme ich zur letzten Frage von Autor Philipp Loser in seinem Aritkel: «Wie kann mein Sohn Antworten von jemandem erwarten, der auch nur Fragen hat?» Oder, anders formuliert: Wie kommt man heute zu festen Überzeugungen im Glauben?
Dazu schildere ich kurz, was wir aktuell in unserer Pfarrei anbieten und erleben: Durch die wachsende Kenntnis des Evangeliums wollen wir das Wort und Botschaft Jesu neu entdecken und vertiefen. Der Dialog soll wachsen – untereinander in der Gemeinschaft und mit den Gläubigen, die zuhören können und ihren Glauben mit dem Leben bezeugen. In der Kirche als Institution wollen wir mit Geduld und Barmherzigkeit wirken, im Wissen, dass sie aus Menschen besteht und daher nie vollkommen sein kann.
Wie wir (Sie und ich) an den Wert der Familie glauben, obwohl nicht alle Familien vollkommen sind, so können wir Teil der katholischen Kirche sein – Sie gehören als Getaufter auch dazu – auch wenn uns die volle Überzeugung fehlt. Es genügt, sich auf den Weg zu machen und sich unterwegs auf der Suche nach der Wahrheit zu fühlen.