Nordirland ist einer der grossen Aufsteiger der letzten Jahre im europäischen Fussball. Trainer Michael O’Neill entfachte die Begeisterung und hält sie mit eigenen Methoden am Leben.
Im Gang, der beim Trainingszentrum der Nordiren zum Pressesaal führt, hängt die Tabelle der EM-Qualifikationsgruppe F. Sie zeigt Nordirland als Erster vor Rumänien, Ungarn, Finnland, den Färöern und Griechenland. Mehr noch als den Gästen im in der Nähe von Lyon gelegenen Parc Montchervet soll damit den eigenen Spielern in Erinnerung gerufen werden, dass Nordirland kein Zufallsgast bei dieser EM ist.
«Wir haben den Spielern eingetrichtert, dass wir als Gruppensieger hier sind», erzählt Trainer Michael O’Neill. «Wir wären auch da, wenn sich nur zehn Mannschaften qualifiziert hätten.» Selbstvertrauen kann O’Neill, der Architekt des nordirischen Erfolgs, nicht voraussetzen, selbst wenn seine Mannschaft nur eine der letzten 14 Partien verloren hat. Der Alltag der grossen Mehrheit seiner Spieler läuft fernab der grossen Fussballbühne ab, etwa in Hamilton, Aberdeen, Fleetwood oder Derby.
O’Neill hat es geschafft, mit bescheidenden Mitteln ein Team zu formen, das in den letzten vier Jahren im FIFA-Ranking vom 129. auf den 25. Platz vorstiess und nun erstmals seit 30 Jahren Nordirland an einem grossen Turnier vertritt. Die Basis für den Erfolg ist die Leidenschaft, mit der die Vertreter des 1,8 Millionen Einwohner zählenden Landes auftreten. Nicht umsonst ist O’Neill ein Bewunderer der Spielweise von Atletico Madrid. Er weiss, dass Nordirland nicht genug Qualität besitzt, um mit rein spielerischen Mitteln zu dominieren und erinnert daran: «Wir hatten in unserer Qualifikationsgruppe am zweitwenigsten Ballbesitz und haben doch am meisten Tore erzielt.» Am Dienstag wartet in Paris im dritten EM-Spiel Weltmeister Deutschland als Gegner.
Ein Erbe hinterlassen
«Wagen zu träumen» steht als Motto auf dem Mannschaftsbus, der die Spieler unter anderem vom Trainingszentrum ins Hotel Château de Pizay bringt. Dort wurden die Zimmer vor dem Turnier als eine Quelle der Inspiration eingerichtet. Über dem Fernseher hängt die Tabelle der Qualifikation, an den Wänden finden sich Fotos von den Familien der Spieler und Sujets aus der nordirischen Fussballgeschichte: Gerry Armstrong etwa, der 1982 den 1:0-Siegtreffer bei der WM 1982 gegen Spanien schoss. Oder Steven Davis, wie er im letzten Herbst die EM-Qualifikation bejubelte.
O’Neill weiss, dass er andere Weg gehen muss als viele seiner Kollegen bei dieser EM. Er sieht sich auch weniger als Selektionär, weil er kaum Alternativen hat. Die Auswahl an Spielern ist gering. «Ich habe als Trainer Nordirlands schnell gelernt, dass ich mein bestes Team aufs Feld schicken muss», betont der 46-Jährige. Den Luxus, Spieler wegen Fehlverhaltens auszuschliessen, kann er sich nicht leisten. Er muss mit denen auskommen, die ihm zur Verfügung stehen. Man müsse Probleme auch im zwischenmenschlichen Bereich irgendwie lösen, so O’Neill.
Ihm wird in Grossbritannien nicht nur hoch angerechnet, was er aus der Nationalmannschaft gemacht hat, sondern auch, dass er sie der Bevölkerung näher gebracht hat. Als erster katholischer Nationaltrainer Nordirlands war der frühere Mittelfeldspieler prädestiniert, um auch den Teil Nordirlands hinter sich zu bringen, der weiterhin von einer Vereinigung mit Irland träumt. Auch der Erfolg hat dazu beigetragen, dass die distanzierten Katholiken sich mehr mit Nordirland identifizieren als zuvor.
«Wir haben innerhalb der Mannschaft darüber gesprochen, ein Erbe zu hinterlassen», sagt Gareth McAuley, der Torschütze zum 1:0 beim ersten EM-Sieg der Nordiren gegen die Ukraine. «Fussball ist ein romantisches Spiel, und manchmal setzen sich die Aussenseiter durch.» Man könne die Aussenseiter-Rolle auch zum Vorteil nutzten, ist O’Neill überzeugt. «Wir sind nicht wie die grösseren Länder, deren Spieler Champions League spielen, die alle zwei Jahre an einem grossen Turnier dabei sind. Für uns ist es Begeisterung pur.»