«One Chance» – ein Märchen wie in Wirklichkeit

Paul Potts will zur Oper. Doch für das Kind aus der Arbeiterklasse bleibt das ein Traum. Wie er wahr wurde, wird in der britischen Komödie erzählt: «One Chance» ist grosse, komische Oper. Paul Potts ist ein Junge aus der Arbeiterklasse. Als er 2007 Sieger von «Britain’s Got Talent» wird (die britische Variante von DGST), singt […]

Paul Potts will zur Oper. Doch für das Kind aus der Arbeiterklasse bleibt das ein Traum. Wie er wahr wurde, wird in der britischen Komödie erzählt: «One Chance» ist grosse, komische Oper.

Paul Potts ist ein Junge aus der Arbeiterklasse. Als er 2007 Sieger von «Britain’s Got Talent» wird (die britische Variante von DGST), singt ganz England mit, und ein Traum wird Wirklichkeit, der den Stoff zu einer Oper hergäbe. Tatsächlich ist jetzt eine britische Komödie daraus geworden – über einen der ungewöhnlichsten Opernsänger der Welt:

So eroberte Paul 2007, als sieger von «Britain’s Got Talent» an einem Tag die Herzen der Welt

Die Unterhaltungsindustrie verkauft gerne Märchen solcher Art: Ein Arbeiterkind schaffe den Aufstieg in den Kreis der Gutverdienenden. Dazu gehört auch das Märchen, dass eine grossartige Stimme sich über Nacht ins Rampenlicht des Musik-Geschäftes singen könne  – ohne Schulung. Das Publikum kauft solche Märchenprinzessinnen und liebt sie – bis die nächste kommt, und ihren Kampf als Erfolg verkauft.

Susan Boyle, Paul Potts, Maya Wirz … die Reihe der ist lang

Die Geschichten von dem Kind aus der neunköpfigen schottischen Arbeiterfamilie, dem Handy-Verkäufer aus dem walisischen Port Talbot und der der Busfahrerin aus Binningen, ähneln sich: Die singenden Märchenprinzen und -essinnen verbindet eine analoge TV-Dramaturgie. Der mediale Talent-Menagerie zerrt sie durchs Rampenlicht, lässt sie die Herzen der TV-Millionen erobern. Bis zur Ankündigung der nächsten Zirkus-Nummer lässt man sie tanzen, bis die Kunst zur Nebensache wird.

Dahinter stecken Dompteure wie Simon Phillip Cowell, der auch in «One Chance» mit Original-Zwischenschnitten am Schluss zu sehen ist. Er gibt in der TV-Talent-Industrie den Ton an und hat letzlich mit Musik weniger am Hut, als mit dem Geschäft. Dennoch haben die Hollywood-Produzenten Weinstein Gefallen an dem Stoff – und ein britisches Arbeiterklasse-Märchen gefunden.

Potts singt auch im Film im Hintergrund selber mit

Paul sang schon als Chorjunge fürs Leben gern. Doch für die Wunschkarrieren fand der Junge aus der Arbeiterklasse keinen Weg. Ausserdem hatte sein Vater, der als Stahlkocher arbeitete, andere Pläne. Und für die Jungs in seiner Umgebung war er ein Warmduscher.

Paul soll eine der wenigen Stellen im Stahlwerk antreten, wie es sich für einen aus der Arbeiterklasse gehört, als Arbeiter, wie man in England jene nennte, die wir hierzulande auch kennen, aber nicht mehr so nennen: Menschen, die arbeiten, Familien gründen und Bier trinken bis das Bewusstsein vom Sein bestimmt ist. Unter dem Strich tun Arbeiter überall auf der Welt dasselbe, nur, dass sie sich in Wales noch Arbeiter nennen, was sie auch sind.

Der wahre Stoff aus dem die Träume sind

Aber Paul liebt Oper. Und das passt zur Arbeiterklasse ungefähr wie ein Golfschläger zu einem Rugby-Ball. Sein Vater will ihm den Traum austreiben. Und wäre da nicht Pauls Chef Braddon, der Traum wäre auch in Wirklichkeit nie Wirklichkeit geworden. Braddon ist einer dieser durchgeknallten Arbeiterklasse-Typen, auf denen die Briten stolz sind: Ein Spinner, ein Lebemann, ein Hauptkumpel. Er lässt Paul an seine Hoffnung glauben. Er soll Pavarotti vorsingen, aber keine Klingeltöne.

 

Dazu hilft auch Julz, die Internetbekanntschaft. Sie sieht Paul von der ersten Sekunde an als das, was er ist: Ein Stück Kohle, das sich in einen Diamanten verwandeln wird. Was dann folgt, ist eine Neuauflage von «Billy Elliot». James Corden, einer der Stars des National Theatre in London spielt diesen Paul herzzerreissend scheu, fleissig, verschupft und hysterisch nervös. Er zeigt uns einen Prachts-Loser, der durchhält, sich hineinbeisst und dabei etwas nie aufgibt: Sich selbst.

Kein schriller Auftritt für eine grosse Stimme 

Völlig unverbogen kommt Paul schliesslich zu seinem «Nessun Dorma» aus «Turandot» in den Final. Paul tut nicht das, was all die anderen Kandidaten tun, um aufzufallen. Er versucht nicht aufzufallen. Deshalb fällt er auf. 122 Millionen haben das Original dieses unauffälligen Jungen aus Talbot auf You-Tube schon angeklickt. Und wir bereuen es auf der Stelle, dass im Alltag um uns herum viel zu selten zu einer Opernarie ausgeholt wird.

Der Film läuft in den Kult-Kinos und den Pathé-Kinos. Vorpermière im Küchlin am Mittwoch 30.5.

Doch erinnert uns das nicht an etwas. Maya Wirz? Busfahrerin? Sie war das Schweizer Super-Talent des Jahres bei DGST. Die Tagewoche wird mit ihr den Film besuchen. Das Interview folgt.

Bis dahin verkürzen wir und das Warten mit dem nächsten Talente-Renner, der auf eine Verfilmung wartet. Die Wirklichkeit hat schon vorgelegt: Mohammed Assaf hat bei der arabischen Version von «Britain’s got Talent», «Arabic Idol», Furore gemacht. Der palästinensische Flüchtling musste, um zum Casting in den Libanon zu kommen, den ägyptische Grenzbeamte bestechen. Wegen Schwierigkeiten während der Grenzkontrolle traf Assaf zu spät in Beirut ein. Das Hotel, in dem die Veranstaltung stattfand, war bereits geschlossen. Doch Assaf ließ sich nicht abbringen. Er kletterte über einen Zaun und hatte dann einfach Glück: Ein anderer Kandidat schenkt ihm seine Teilnehmerkarte, „weil er schöner singen würde“.

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