Voraussichtlich am Freitag, gut zwei Jahre nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative, legt der Bundesrat dem Parlament seine Vorschläge zu deren Umsetzung vor. Wunder sind nicht zu erwarten: Ein Scherbenhaufen ist ebenso gut möglich wie eine tragfähige Lösung.
Die Initiative verlangt, dass Inländer bei der Stellenbesetzung Vorrang haben und dass die Schweiz die Zuwanderung mit Kontingenten steuert. Beides verträgt sich nicht mit der Personenfreizügigkeit. Dieses Abkommen, das Teil der Bilateralen I ist, will der Bundesrat aber nicht aufs Spiel setzen. Der wirtschaftliche und politische Schaden für die Schweiz wäre seiner Meinung nach zu gross.
Er hat nun lange darum gerungen, die am 9. Februar 2014 angenommene Verfassungsbestimmung zur Zuwanderung und das Freizügigkeitsabkommen mit der EU unter einen Hut zu bringen. Im vergangenen Dezember kündigte er an, eine Schutzklausel einzuführen, mit der sich die Zuwanderung unter bestimmten Umständen einschränken liesse.
Warten auf «Brexit»-Referendum
Diese Lösung möchte er im Einvernehmen mit der EU innerhalb des Regimes des Freizügigkeitsabkommens umsetzen. Dieses erlaubt Einschränkungen bei schweren wirtschaftlichen oder sozialen Problemen. Dass die Schweiz unter solchen leidet, dürfte gewissen Mitgliedstaaten schwer zu verkaufen sein. Ausserdem hat die EU ihre eigenen Probleme, darunter der drohende Austritt Grossbritanniens.
Offizielle Verhandlungen gab es bisher nicht. Es dürfte den Pragmatikern in Brüssel zu verdanken sein, dass der Schweiz immerhin sogenannte Konsultationen zugebilligt wurden. Im Lauf dieser Gespräche ist der Bundesrat offenbar zum Schluss gekommen, dass eine Schutzklausel die erfolgversprechendste Lösung ist.
Bis das «Brexit»-Referendum am 23. Juni über die Bühne gegangen ist, darf die Schweiz aber mit keinerlei Zugeständnissen der EU rechnen. Es wird dem Bundesrat daher am Freitag nichts anderes übrig bleiben, als dem Parlament die Schutzklausel vorerst ohne den Segen Brüssels vorzulegen. Eine einvernehmliche Lösung will er dem Parlament nachreichen, sobald eine solche vorliegt.
Unterschrift unter Kroatien-Protokoll
Allerdings sind längst nicht alle Probleme gelöst, wenn die EU der Einschränkung der Personenfreizügigkeit zustimmen würde. Die SVP-Initiative muss bis am 9. Februar 2017 umgesetzt sein. Der Bundesrat hat die Kompetenz, selber zu handeln, wenn das Parlament bis dahin keine Lösung beschlossen hat. Bei der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien hingegen ist die Regierung ernsthaft unter Zeitdruck.
Denn dieses Geschäft ist 2014 mit dem Forschungsabkommen Horizon 2020 verknüpft worden, das für die Schweizer Forschung von eminenter Bedeutung ist. Als provisorische Lösung handelte der Bundesrat damals einen teilweisen Anschluss aus. Der Schweiz winkt sogar die volle Assoziierung, jedoch nur, wenn das Kroatien-Protokoll bis am 9. Februar 2017 ratifiziert ist. Andernfalls fliegt die Schweiz definitiv aus der europäischen Forschungszusammenarbeit.
Das will der Bundesrat verhindern. Er hat angekündigt, angesichts der sich abzeichnenden Lösung bei der Personenfreizügigkeit seine Unterschrift unter das Protokoll zu setzen. Es wird erwartet, dass er dazu am Freitag ebenfalls Neuigkeiten anzukündigen hat.
Danach ist es am Parlament, das Abkommen fristgerecht zu ratifizieren und der Schweiz die Teilnahme an Horizon 2020 zu sichern. Die Chancen stehen nicht schlecht: Der Nationalrat will das Geschäft schon in der Sondersession im April beraten, und ein Referendum ist eher unwahrscheinlich.
Kündigung als Option
Eine weitere Unbekannte im europapolitischen Mikado ist das Bundesgericht. Dieses hat in einem Urteil vom vergangenen Herbst festgehalten, dass sich das Freizügigkeitsabkommen nicht mit einer Schutzklausel aushebeln lässt. Die Schweiz könne sich nicht auf ihre Gesetze berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen, schrieben die Richter in dem Entscheid.
Bleibt das Bundesgericht bei dieser Haltung, ist die Schutzklausel Makulatur – zumindest für jene EU-Bürger, die ihr Aufenthaltsrecht in der Schweiz vor Gericht erstreiten. Diese Rechtslage kann der Bundesrat in seiner Botschaft nicht ignorieren. Konsequenterweise müsste er darin auch vorschlagen, das Freizügigkeitsabkommen zu kündigen.
Damit wäre das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und das Verhältnis der Schweiz mit der EU praktisch wieder auf dem Stand der 1990er-Jahre. Wegen der Guillotine-Klausel würde mit der Personenfreizügigkeit das ganze Paket der Bilateralen I automatisch wegfallen, die Bilateralen II mit Schengen und Dublin wären ebenfalls in Gefahr.
Unbeantwortete institutionelle Fragen
Im Zusammenhang mit der Zuwanderung muss der Bundesrat weitere Probleme lösen, zum Beispiel die Verstärkung der flankierenden Massnahmen oder die bessere Integration von Ausländerinnen und Ausländern. Auch dazu sind am Freitag Entscheide zu erwarten. Letztlich dreht sich aber alles um die Frage, wie das bisherige Verhältnis zur EU bewahrt werden kann.
Anders bei den Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zu institutionellen Fragen: Hier geht es um dessen Weiterentwicklung. Die EU verlangt einheitliche und effiziente Regeln für Auslegung und Überwachung der rund 120 bestehenden Abkommen, für die Übernahme künftigen EU-Rechts und für die Streitbeilegung. In monatelangen Verhandlungen haben sich die Delegationen einer Einigung angenähert. Einzig bei der Streitbeilegung gibt es noch keine Lösung.
Brüssel möchte, dass sich die Schweiz dem Spruch des EU-Gerichtshofs unterwirft. Das kommt aber für den Bundesrat nicht infrage. Der Preis der Blockade ist, dass die Schweiz keinen weiteren Marktzugang bekommt. Dabei lägen einige Verträge fertig verhandelt in der Schublade, darunter das Stromabkommen oder jenes über die Verknüpfung der Emissionshandelssysteme.
Formell sind die Dossiers Zuwanderung und institutionellen Fragen nicht verknüpft. Auch weist noch nichts darauf hin, dass die Geschäfte zu einer einzigen Vorlage verbunden werden könnten. Ausgeschlossen ist es aber nicht, denn letztlich geht es bei beiden um den Platz der Schweiz in Europa.