Der brasilianische Pastor Antonio hat einen kriminellen Teenager an der Copacabana vor einem Mob gerettet, der ihn lynchen wollte. Er nahm die Szene auf und ging damit zur Familie des Diebs. Vor zwei Jahren hatte Antonio in Zürich gegen die FIFA protestiert.
Freitag um 17.30 Uhr: Pastor Antonio Costa fährt durch die Avenida Nossa Senhora an der Copacabana. Vor einem Geschäft, das Koffer verkauft, sieht er eine aufgebrachte Menge. Es ist bereits dunkel in Rio de Janeiro. Costa hält an, steigt aus. «Schneidet ihm den Kopf ab!», «trennt ihm die Arme ab!», schreien die Menschen, die im Kreis stehen.
In der Mitte am Boden zwei Männer: Ein hellhäutiger mit blauem T-Shirt und Rucksack kniet auf einem dunkelhäutigen Jugendlichen. Mit dem rechten Arm fixiert er dessen Hand, mit dem linken drückt er ihm auf die Kehle. Das Gesicht des Teenagers ist aufgequollen. In Todesangst ruft er nach Gott und seiner Mutter. Costa hat alles auf Video aufgenommen.
Er interveniert, vermittelt und erfährt: Der Jugendliche wollte einem Passanten das Mobiltelefon stehlen und wurde ertappt. Die Meute lässt ihn schliesslich gehen, doch der Pastor muss sich Vorwürfe gefallen lassen: Er verteidige den Abschaum, er solle den Jungen doch nach Hause nehmen, wenn ihm so viel an Kriminellen liege.
Anhalten ist lebensgefährlich
Luan heisst der Teenager, er ist 17 und einer von denen, auf die man lieber nicht trifft, wenn es dunkel wird in Rio. Von seiner Sorte gibt es viele: Jugendliche aus armen Gegenden, ohne Arbeit und Perspektive. Abends machen sie sich auf in die besseren Viertel, auf der Suche nach Geld, Smartphones, Schmuck. Seit Beginn der Olympischen Spiele jagen sich die Nachrichten über ausgeraubte Touristen, Athleten und Journalisten.
Luan hat Glück, die Polizei lässt ihn laufen. Er ist minderjährig, und der Mann, den er bestehlen wollte, hat auf eine Anzeige verzichtet. Pastor Costa nimmt seine Adresse auf.
Ein paar Tage später. Für seine Organisation «Rio de Paz», die sich für ein friedliches Rio einsetzt, ist der 54-jährige Costa in zwei Favelas unterwegs. Er vermittelt zwischen Bewohnern und Sicherheitskräften. Nach den Favelas will er Luans Familie besuchen. Er wirkt etwas nervös. «Das ist sehr wichtig», sagt er, «ich will mit der Familie reden – aufzeigen, was passiert ist und dass die Gewalt ein Ende haben muss.»
Ein Freund begleitet ihn. Gemeinsam kurven sie durch die Dunkelheit, in den Nordwesten Rios. Die Strassen sind spärlich beleuchtet, Graffitis und heruntergekommene Fassaden dominieren das Bild. Costa fährt konsequent bei Rot über die Kreuzungen, auch die Fahrschule vor ihm hält nicht an. «Viel zu gefährlich» sei es, «wer hier anhält, wird schnell überfallen.»
«Jesus te ama»
Luans Familie wohnt in Haus Nummer 138 in einer Strasse irgendwo im Viertel Senador Camará. Vor dem Eingang stehen defekte Autos: eines mit platten Reifen, eines ohne Vorderrad, dazwischen türmt sich der Abfall. Es ist keine Favela, aber es gibt welche in der Nähe, und der Standard ist tief. Vor der Küche hängen Lumpen und Unterwäsche unter einem Wellblech in einem mit Gerümpel verstellten Gang, ein Hund liegt in einer Ecke, und über dem Eingang hat jemand mit der Spraydose den Bewohnern versichert: «Jesus te ama», Jesus liebt dich.
Luan ist noch nicht da. Aber im kleinen Wohnzimmer mit angrenzender Küche sind Mutter, Schwester, Onkel und Cousine versammelt. Auf dem Sofa vor einem alten Röhrenfernseher sitzen die Grossmutter und eine weitere alte Frau. Sie steht auf, die Beine angeschwollen, die Augen rot und getrübt, die unteren Zähne fehlen. An einer Krücke schleppt sie sich zum Pastor, bittet ihn um seinen Segen. Draussen humpelt ein deutlich jüngerer Mann ebenfalls an einer Krücke vorbei.
Der Vater ist nicht da, er hat die Familie verlassen. Costa erfährt, dass er ein Problem mit Alkohol hat und Kokain konsumiert. Auch die Mutter trinkt zu viel, zudem ist sie wegen Depressionen in Behandlung. Luans Schwester Juliana ist 15. Sie trifft sich seit geraumer Zeit mit einem Dealer, der sie schlägt.
Der Pastor verzieht das Gesicht: «Es ist immer dieselbe Geschichte, Luan erfüllt alle Voraussetzungen für die schiefe Bahn.» Niemand in dieser Familie hat einen Job, alle haben die Schule vorzeitig abgebrochen. Laut Costa sind ihre beruflichen und privaten Perspektiven gleich null. Einzig die Mutter bekommt eine Art Sozialhilfe.
Nächstes Mal bewaffnet
Auch Luan hat die Schule nicht abgeschlossen. Erfolglos hat er sich in Supermärkten beworben. So zieht er abends los, um jene zu erleichtern, die mehr haben als er. Die Mutter erschrickt, als sie das hört. Sie habe nichts gewusst. Aber ihr ist aufgefallen, dass der Sohn in letzter Zeit nachts häufig weggeblieben ist.
Antonio Costa zückt sein Smartphone. Er spielt das Video ab, das zeigt, wie Luan von schätzungsweise 20 Personen bedroht und zu Boden gedrückt wird. 45 Sekunden lang ist die Aufnahme vom 12. August; Luans Cousine hält sich nach wenigen Augenblicken die Hände vors Gesicht und reisst die Augen weit auf. Auch die anderen sind schockiert, bitten den Pastor, das Video anzuhalten, und betrachten jedes Detail. Sie sind sprachlos.
In diesem Fall hatte der 17-Jährige keinen Erfolg auf seinem Beutezug. Eine Chance für ihn? Antonio ist unsicher. Vielleicht. Man müsse versuchen, Einfluss zu nehmen. Aber in seiner Gang sei er jetzt der Verlierer – gut möglich, dass sie ihm befehlen, beim nächsten Mal eine Waffe mitzunehmen. So dreht sich die Gewaltspirale weiter.
Hätte er das Mobiltelefon entwenden können, hätte er es weiter verkauft. Mit dem Geld leisten sich die Kriminellen Kleider, Gadgets wie Kopfhörer oder andere Statussymbole. «Bei den Männern geht es immer darum, etwas darzustellen», sagt Costa. Für die Familie bleibt nichts übrig.
Unter Schock
Als Luan später nach Hause kommt, fläzt er sich neben der Grossmutter und der Frau mit der Krücke auf das Sofa. Er trägt eine dunkelgrün schimmernde Steppjacke, eine blau-rot gestreifte Wollmütze, kurze schwarze Hosen und weisse Sportsocken in orangen Flip-Flops. Er ist nervös.
Der Pastor und sein Freund nehmen ihn mit nach draussen. Neben dem Müllberg vor Haus Nummer 138 reden sie auf ihn ein, gestikulieren. Luan tritt von einem Bein aufs andere, lehnt sich an die Wand. Sie hätten ihm in aller Form klar gemacht, was sein Verhalten für sein weiteres Leben bedeute, erklärt Costa. Luan stehe nach wie vor unter Schock, gesagt habe er kaum ein Wort.
Das zeigt sich auch, als er später nochmals zur Strasse kommen und für ein Foto posieren soll. Er will nicht. Auch nicht für die Schweiz und auch nicht von hinten. Wieder lehnt er sich an die Wand. Dann laufen ihm Tränen übers Gesicht, und er verschwindet im dunklen Flur.
Der Pastor ist dennoch relativ zufrieden mit dem Besuch. Er hat unternommen, was er konnte, um der Spirale von Armut und Gewalt entgegenzutreten. Was Luan und seine Familie damit anfangen, steht nicht in seiner Macht.
Protest auch gegen FIFA
Pastor Antonio Costa war schon mehrmals in der Schweiz. Vor gut zwei Jahren hat er in Zürich vor dem FIFA-Hauptsitz gegen die Fussball-WM in Brasilien protestiert: Seiner Meinung nach hat das brasilianische Volk nicht davon profitiert.
Auch die Olympischen Spiele kritisiert er: Nur die ohnehin schon gut Betuchten würden profitieren, die Armen gingen leer aus. Für Costa sollten solche Grossanlässe nicht in Ländern mit ausgeprägter sozialer Ungleichheit stattfinden.
Costa ist mit Swiss-Olympic-Direktor Roger Schnegg befreundet. Er hat ihn in der Schweiz besucht, und im Gegenzug war Schnegg drei Tage mit dem Pastor in Brasilien unterwegs.
Als Antonio und sein Freund gegen Mitternacht in Senador Camará wieder ins Auto steigen, ist der Abfall vor dem Haus weg. Die Müllabfuhr hat ihn mitgenommen.