An der Urne des Filmfestivals in Locarno sind die «Schweizer Helden» zum Publikumsliebling erkoren worden. Jetzt kommt der Film in die Kinos und gibt zu reden.
Die Erwartungen an Peter Luisi waren riesig. Kann er mit «Schweizer Helden» einen Weg aus der Schockstarre nach der Abstimmung vom 9. Februar zeigen? Beim Filmfestival in Locarno hat die Piazza gelacht, applaudiert und – Wahlzettel eingelegt: «Schweizer Helden» wurde zum Publikumsliebling.
Peter Luisis Film erzählt von einer Flüchtlingstruppe, die den «Tell» aufführt, und erregt auch Widerspruch. Was Luisi dazu sagen will, sagt er nicht gerne mit Worten. Er erzählt lieber Geschichten.
Luisi hat viel riskiert. Ohne gesicherte Finanzierung hat er eine Truppe von Menschen ägyptischer, türkischer, kurdischer, somalischer, tibetanischer, kolumbischer und italienischer Abstammung versammelt. Schweizer, Secondos, Einwanderer, Durchwanderer, Flüchtlinge in einer Arbeit vereint. Luisi selber ist Secondo.
Dass sein Film politisch sei, verneint Luisi. Aber ist die Liste der Mitarbeiterinnen nicht schon politisch? «Es geht um eine Annäherung an Menschenschicksale. Ich will nicht die Haltung der Schweiz kritisieren. Ich will nicht mit dem Finger auf jemanden zeigen.» Als er das sagt, schweift sein Blick hinaus auf die Menschen, die gemächlich in der Sonne spazieren. Es sind mehrheitlich Feriengäste unter Sonnenhüten, Deutschschweizer.
Ich verhehle ihm nicht, dass ich etwas enttäuscht bin über seinen Film, aber nicht weiss, warum. Habe ich zu rasch an Mani Matters «Tell» gedacht? Habe ich zu viel erwartet?
Gibt es tatsächlich Weisungen, Asylanten im Übergangsheim nicht in deutscher Sprache zu unterrichten, damit sie sich nicht «daran gewöhnen, sich hier heimisch zu fühlen», oder will man einfach nur nicht, dass sie integriert werden? Wer, wie Luisi, viel recherchiert hat, stösst auf viele Fragen. Dennoch folgt er im Mittelpunkt eigentlich einer Geschichte: Sabine, eine Schweizer Hausfrau, findet sich unerwartet in der Situation wieder, mit einer Gruppe von Asylbewerbern Theater zu spielen.
Was, wenn jeder von uns einen Flüchtling aufnimmt?
Im Kern stellt der Film die Frage, vor der Sabine steht: Was geschieht mit jemandem, der plötzlich von Asylbewerbern umgeben ist? «Sabine ist Kursleiterin. Sie macht die grösste Veränderung im Film durch», sagt Luisi. Sabine bringt Menschen zusammen. Wenn Luisi über seine Arbeit spricht, ist sofort klar, was er all die Monate gemacht hat: Menschen motiviert. Menschen zusammengebracht. Menschen angeleitet. Wie die Sabine in seinem Film.
Auf die Frage, ob Sabine ein Helfersyndrom abgearbeitet habe, zögert er kurz. «Sabine sieht an einem Punkt des Filmes ein, dass sie das Theater nicht für die Asylanten, sondern für sich macht. Sabine scheitert. Im Scheitern erfährt sie sich neu.»
Dann erzählt Luisi von einer Frau aus seiner Nähe, die genau das getan hat, was Sabine im Film tut. Er hat viel recherchiert, Zentren besucht. Je tiefer er in die Materie eingedrungen ist, desto mehr Gelassenheit hat er bei den Menschen gefunden, die mit Flüchtlingen arbeiten.
Am Anfang steht die Würde
«Entscheidend ist, dass in diesen Zentren die Menschen respektvoll behandelt werden. Das macht ihre Situation nicht leichter. Das nimmt ihnen nicht die Angst um ihre Liebsten zu Hause. Niemand kann ihnen die nehmen. Auch nicht unser Mitleid. Mein Film will nicht in diesem Sinne politisch etwas verändern.»
Ich möchte jetzt fragen: Weil alles gut so ist? Aber ich frage erst einmal, wie «Schweizer Helden» unterhalten will, mit einem Thema, von dem andere die Finger lassen oder vor Betroffenheit und Ehrfurcht erstarren. Die Antwort kommt rasch: «‹Schweizer Helden› liefert eine rasante Komödie. ‹Schweizer Helden› wagt sich an die konkrete, emotionale Seite des Themas. ‹Schweizer Helden› zeigt, mit anderen Worten, wie es wäre, wenn wir wirklich alle anfangen wollten, uns ganz der Herausforderung – im Rahmen unserer Möglichkeiten – zu stellen. Wir würden über Flüchtlinge nicht reden. Sondern würden uns um sie kümmern. Sabine tut das. In ihren drei Wochen Ferien.»
Luisi erzählt nicht nur die Geschichte seiner Hauptfigur, wenn er jetzt fortfährt. Er beschreibt wohl auch ein wenig seine eigene: «Sabine gerät in dieses Asylbewerberzentrum, ohne erst einmal viel zu überlegen. Aber sie will etwas. Dann fängt sie an zu entdecken, dass Respekt für andere mit Respekt für sich selbst verbunden ist: Als Zuschauerin fängt sie an.»
Wo helfen wir, wo lassen wir im Stich?
Dann spielt sie mit den Flüchtlingen Theater und entdeckt erst einmal, wie einfach der Kontakt sein kann, aber auch, auf welchem Hintergrund er basiert: Alle haben eine schreckliche Vergangenheit hinter sich. Sie haben alle eine grosse Veränderung vor sich. Am Schluss macht Sabine das nicht mehr für sich. Sie erfährt, wie der Zuschauer des Films, dass auch in dem Asylbewerberzentrum die Menschen nur Menschen sind.
Punishment zum Beispiel, der den Tell spielt, ist ein Wirtschaftsflüchtling (das mit den sieben Kindern ist bei ihm kein Witz). Er hat andere Gründe, Asyl zu suchen, als der Kurde Remzi. Aber beide verstehen – als Telldarsteller – sofort, dass sie sich für andere einsetzen. Dass sie ihr Leben für andere riskieren. Die Frage bleibt für jeden Menschen: Wo helfe ich, wo lasse ich im Stich?
Tell ist eine Geschichte aus der Sagenwelt des Widerstandes
Die Flüchtlinge aus den unterschiedlichen Ländern haben sofort Zugang zu der archaischen Geschichte, die über Norwegen, Dänemark einst in die Schweiz gelangte: «Die Frage ist heute wie damals: Wer erwartet eigentlich von wem, dass sein Hut gegrüsst wird, auch wenn er nicht anwesend ist?»
Dabei streicht Luisis Finger nachdenklich über die Rollenliste seines Films, auf der kaum ein Name Schweizerisch klingt. Selbst Zgraggen klingt irgendwie südsyrisch… «Der Afghane versteht sofort, worum es in Tell geht. Der Kurde weiss sofort, was Angst um seinen Sohn heisst. Die Begriffe aus dem ‹Tell› stecken in den Geschichten der Flüchtlinge: Angst um die Familie. Mut zum Widerstand. Furcht vor Bedrohung. Aufbegehren gegen Fremdherrschaft.»
Wenn der Kurde Remzi den Tell spielt und sagt: «Früher Schweiz wie Kurdistan, musste kämpfen für Freiheit», ist er Schiller vielleicht näher als ein Schweizer Gymnasiast in Air-Max-Turnschuhen.
So nicht – wie dann?
Aber ist das dann auch mehr als ein hervorragend funktionierender romantischer Kniff? Soll allein deshalb das Publikum gerührt sein? Luisi lächelt: «Ich habe verschiedene zusätzliche Schwierigkeiten eingebaut, die uns glauben lassen, dass sie das nicht schaffen werden. Der TV-Moderator kritisiert: ‹Nein. So geht das nicht.› Man soll sich immer wieder dabei ertappen zu denken: Nein, so nicht. Das klappt nie.»
Luisi will nichts besser wissen. Das lässt mir als notorischem Besserwisser naturgemäss keine Ruhe: Wenn zum Schluss der Aufführung ein paar der Gesuchsteller abhauen, nach Frankreich, werden wir da als Zuschauer nicht ein wenig romantisch verführt? «Es ist wie im Leben. Wir schauen nur zu», sagt Luisi. Sein Blick ist jetzt schon etwas unruhig. Er will sich jetzt seinem Team widmen. Viele sind angereist und warten auf ihn.
«Am Schluss des Films übernehmen die Zentrumsbewohner den Lead. Sie überwinden die Widerstände der Sprache, der Kultur, der Angst. Sie wollen es machen. Sie wollen sich dem Publikum zeigen. Das ist vielleicht romantisch. Aber das darf ein Publikum rühren.»
Sabine kommt mit einer sehr kleinbürgerlichen Schweizer Not – vom Mann verlassen, von den Freundinnen gemobbt, von der Familie belächelt – in das Asylbewerberheim. Plötzlich stösst sie auf ganz unmittelbare Probleme. Auf echte Probleme von Leben und Tod. Wenn sie sie auch kaum erahnen kann: Ihre eigenen Probleme werden relativiert. In gewisser Weise findet Sabine Asyl bei den Asylbewerbern.
Wir verlieren unsere Würde, wenn wir die Würde anderer verletzen
Die Frau, mit der Luisi recherchiert hat, hat ihm sehr genau geschildert, welche kulturellen Sprengsätze in den Flüchtlings-Gruppen schlummern. Für vieles gelingen Luisi filmische Übersetzungen: Wenn der Familienvater Murat angibt, sein kaputter Rücken hindere ihn daran, dass er sich vor Gesslers Hut bückt, ist das ein liebevoller Kommentar zum nötigen Widerstand.
Wenn derselbe Murat sich dennoch von seinem Rücken nicht abhalten lässt, seine Tochter mit Fäusten vor einem Anwärter fernzuhalten, zeigt das Luisis Witz. Der Filmschnitt auf ein sehr rückenstrapazierendes Polospiel unversehrter Schweizer ist dann sein filmischer Kommentar dazu: «Sabine scheitert. Aber sie gibt nicht auf. Weil sie zu verstehen beginnt, dass in der Begegnung mit diesen Menschen auch ihre Würde steckt.»
Luisi will nur ungern jemandem vorschreiben, wie er den Film zu lesen hat. Tell ist je nach Sichtweise vielleicht eigentlich ein Terrorist. Möglicherweise hat er einfach den Mut, anderen zu helfen. Immerhin entscheidet er sich, im Untergrund zu arbeiten. Dann wäre er der politische Flüchtling. Tell wäre ein klassischer politischer Asylbewerber.
Als wir das Gespräch beenden, haben wir noch nicht über die besten Seiten des Films gesprochen: Dass wir uns bei sehr vielem ertappen dürfen, über das wir mal reden müssen. Am besten gleich jetzt.