«Philomena» – die Patronin der Kleinkinder

Das uneheliche Kind einer Katholikin wird verkauft. Doch erst nach fünfzig Jahren traut sich die Mutter, sich nach ihrem Sohn zu erkundigen. Was nach schwerem Stoff klingt, ist in Tat und Wahrheit eine geistreiche Auseinandersetzung mit einer wahren Tragödie: Ein Film, nach dem man sich gerne in den Armen liegt. Vor Freude. Vor Trauer. Vor […]

Das uneheliche Kind einer Katholikin wird verkauft. Doch erst nach fünfzig Jahren traut sich die Mutter, sich nach ihrem Sohn zu erkundigen. Was nach schwerem Stoff klingt, ist in Tat und Wahrheit eine geistreiche Auseinandersetzung mit einer wahren Tragödie: Ein Film, nach dem man sich gerne in den Armen liegt. Vor Freude. Vor Trauer. Vor lauter Lust auf langes Leben.

Erst mit 33 – «à l’age du Christ» – sagte meine Mutter, habe sie angefangen auf ihr Leben zurückzublicken. Mit 33 habe ich begriffen, was sie damit meinte. Philomena blickt seit fünfzig Jahren zurück. Ihr ganzes Leben lang dachte sie täglich an ihr gestohlenes Kind, an den letzten Blick, an den verzweifelten Schrei – wohl ebenso häufig, wie eine Mutter es tut, die ihr Kind täglich sieht.

Dann lernt die weltabgewandte Mutter, deren Kind vor fünfzig Jahren von den Kloster-Schwestern verkauft wurde, einen weltgewandten Ex-Journalisten kennen, einen Oxford-Absolventen. Er ist eine ungläubiger Akademiker ohne Job. Sie ist eine gläubige Provinzlerin ohne Ruhe. Der mit allen ironischen Wassern gewaschene Journalist trifft auf die mit Weihwasser getaufte, lebenskluge Rentnerin. Ein traumhaftes Gegensatzpaar. Bald macht sich das ungleiche Paar auf die Suche. Hilft das ihr? Oder hilft das ihm?

Klassische Erzählkunst mit zeitgössischem Witz

Stephen Frears liefert mit «Philomena» ein Meisterstück des britischen Erzählkinos. Er zeigt, dass er hierzu gleich mehrere Disziplinen beherrscht:

Er öffnet mit seiner Sprachregie Judi Dench und Steve Cogan die Räume, in denen sie den fein ziselierten Witz des Drehbuches zum klingen bringen.

Er komponiert mit seiner Bildregie gekonnt die Rhythmen der optischen Enthüllungen: Etwa, wenn wir unter dem schmiedeisernen Torbogen des Klosters durchfahren. Beim ersten Mal scheint uns die Assoziation mit Ausschwitz noch an den Haaren herbeigezogen. Beim zweiten Mal aber haben wir begriffen, dass auch alles mit dem Mord an einem Baby beginnen kann.

Frears zeigt sich aber auch als gewiefter Dramaturg. Selbst in den rührendsten Augenblicken gleitet er mit der Geschichte nie in den Kitsch ab. Er lässt Judi Dench und Steve Coogan einen hinreissenden sprachlichen Pas-de-deux tanzen und dekonstruiert gleichzeitig die verschachtelte Geschichte einer Mutter-Kind-Tragödie, eines Aids-Opfers, eines Kindsraubes und einer Glaubensdespotin. Er spielt ebenso mit den Mitteln des Enthüllungsthrillers, wie er augenzwinkernd auf die Untiefen des Groschenromans und dessen Konstruktionsformen verweist. Dokumentarismus steht neben Comedy und Serien-Logik. Von allem das Feinste. Von keinem das Langweilige.

Ein Fest für Schauspielfreundinnen

Dabei treffen zwei Darsteller aufeinander, die den Spagat zwischen tiefstem Ernst und frechstem Scherz schaffen, ohne dass wir dabei auf eine Seite gezwungen würden: Wen der Unernst von Coogan abstösst, der wird auch seinen Spass an Denchs praktischem Witz haben. Wer Coogans komödiantisches Talent erwartet, wird erstaunt sein, wie oft sie nach dem Taschentuch greift. Dabei darf man sich ruhig in Erinnerung rufen, dass Coogan auch für das Drehbuch und die Produktion mitzeichnet.

Das ungleiche Paar macht eine ungleiche Entwicklung. Aus Philomenas Demut wird Mut. Aus Martins Mutlosigkeit Wut. Mit grösster Zuneigung für beide lässt Frears die einfache Unterklasse-Irin und den wortgewandten Bildungsbürger nach einer gemeinsamen Sprache suchen. Wie fern sich die beiden sind, wird in vielen Szenen erzählt.

Als aber Philomena unterwegs in die Kirche eilt, um zu beichten und es etwas länger dauert, macht sich Martin Sorgen. Als auch er, der Atheist, die Kirche betritt, verlässt sie eben den Beichtstuhl, wortlos, und stürzt aus der Kirche, ohne sich zu bekreuzigen. Wie nahe die beiden sich schon gekommen sind, wird erst klar, als der Atheist bemerkt, dass sie das Weihwasser nicht benutzt hat.  

Die Geschichte ist nicht weniger komisch als sie wahr ist: Sie fusst auf Begebenheiten, die das Leben schrieb. Für all jene, die glauben, ein katholisches Kloster, das Kinder verkauft, habe es vielleicht im 19. Jahrhundert gegeben, sei auf die Geschichte verwiesen, die 1952 begann und sich in der Blair-Ära abspielte. Also: Nicht warten, bis sie 33 sind! Es lohnt sich in jedem Alter auf das Leben zu blicken, um etwas über Toleranz und gegenseitiges Verständnis nachzudenken. Nicht immer muss der Blick dabei rückwärts gerichtet sein.


«Philomena» läuft u.a. im Basler Kino Atelier.  

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