Plädoyer für eine zeitliche Personalisierung von Nachrichtenwebsites

Onlinemedien bieten allen Lesern immer dasselbe, ganz egal ob sie zuletzt vor 5 Minuten oder vor 5 Tagen auf der Seite waren. Darum fehlt vielen Lesern das vertraute Gefühl der Zeitung, nichts Wichtiges zu verpassen. Vieles, was die Zeitung einst ausgezeichnet hat, bietet online heute besser. Ein wichtiger Trumpf aber bleibt: Die Zeitung ist endlich. […]

Onlinemedien bieten allen Lesern immer dasselbe, ganz egal ob sie zuletzt vor 5 Minuten oder vor 5 Tagen auf der Seite waren. Darum fehlt vielen Lesern das vertraute Gefühl der Zeitung, nichts Wichtiges zu verpassen.

Vieles, was die Zeitung einst ausgezeichnet hat, bietet online heute besser. Ein wichtiger Trumpf aber bleibt: Die Zeitung ist endlich. Sie hat einen Anfang und ein Ende und gibt dem Leser damit das beruhigende Gefühl, alles Wichtige, das seit der letzten Ausgabe passiert ist, zu erfahren. Auch Radionachrichten und die Tagesschau funktionieren nach diesem Prinzip.

Neulich habe ich mich mit meinem Kollegen Peter Sennhauser über das Thema unterhalten. Er hat eine These: Wenn Menschen sagen, sie bevorzugten wegen der Haptik die Zeitung gegenüber Onlinemedien, so meinen sie eigentlich dies: Die Endlichkeit der Zeitung. Plötzlich wurde mir klar: Wir müssen unsere Websites zeitlich personalisieren.

Personalisierung ist eins dieser Zauberwörter, die seit Jahren im Netz herumgereicht werden. Websites müssen personalisiert werden, damit die Nutzer direkter angesprochen werden. In zahlreichen Facetten wird Personalisierung heute eingesetzt, auch bei Nachrichtenseiten. Im Fokus stehen dabei drei Formen:

  1. Thematische Personalisierung (man denke an eine spezialisierte App wie Zite, aber auch an eine Rubrik wie Meine Themen, wie sie die TagesWoche anbietet): Das Medium liefert jedem Nutzer primär Inhalte zu Themen, die ihn besonders interessieren.
  2. Geografische Personalisierung (siehe CNN, das Nutzern ausserhalb der USA automatisch die «International Edition» anzeigt, aber auch YouTubes «Dieses Video ist in Ihrem Land nicht verfügbar»): Das Medium passt die Auswahl der Inhalte dem Standort des Nutzers an.
  3. Netzwerkbezogene Personalisierung (man denke an eine App wie Flipboard, welche dem Nutzer Inhalte zeigt, die Personen aus einen Netzwerken geteilt haben): Das Medium zeigt dem Nutzer primär Inhalte an, die sein Umfeld für interessant befunden haben.

Das ist alles gut und nützlich, obgleich ich inzwischen der Überzeugung bin, dass Leser ein Angebot sehr gut überfliegen und die für sie interessanten Artikel aussuchen können (es verringert auch die Gefahr, in einer thematisch immer enger werdenden «filter bubble» zu verschwinden). Was fehlt – und was sich der Leser nicht selber erarbeiten kann – ist eine zeitliche Orientierung: Was sind die wichtigsten Geschichten seit ich das letzte Mal nachgeschaut habe?

Je nachdem, ob ich eine Woche in den Ferien war, die letzten acht Stunden geschlafen habe oder gerade erst vor fünf Minuten auf der Website war, habe ich komplett verschiedene Informationsbedürfnisse. Die Startseite bietet mir aber immer dasselbe: jene Geschichten, die in exakt diesem Moment am wichtigsten sind. Vielleicht gibt es irgendwo noch einen Bereich mit den wichtigsten Geschichten des Tages oder der letzten 24 Stunden, die Zeiteinheiten sind aber starr und gehen nicht auf das Nutzerbedürfnis ein.

Warum passt sich die Startseite des Mediums nicht primär danach an, wann ich mich das letzte Mal informiert habe? Es ist ja nicht so, als wüsste die Seite das nicht. Sie kann ein Cookie setzen und bei meinem Besuch nachsehen, wann ich das vergangene Mal da war. Oder, etwas intelligenter (und mit Ansatzpunkt für ein Geschäftsmodell) gelöst, könnte sie mich bitten, einen Account zu erstellen, damit meine Nutzung über verschiedene Geräte hinweg synchronisiert werden kann – damit also bei Aufruf der Website im Büro in Betracht gezogen werden kann, dass ich beim Frühstück schon die App desselben Mediums auf dem Tablet konsultiert habe.

Caveat 1: Natürlich muss die derzeit überall im Vordergrund stehende Echtzeitperspektive weiterhin verfügbar sein. Denkbar wäre beispielsweise ein Regler, mit dem die abzudeckende Zeitspanne definiert würde. Automatisch ist die Zeit seit dem letzten Besuch eingestellt, sie kann aber beliebig verlängert oder verkürzt werden bis zu «0 Minuten», also Echtzeit.

Caveat 2: Eine Schwierigkeit des Ansatzes besteht darin, dass sich die wenigsten Menschen über ein einziges Medium informieren. Nur weil ich seit einem Tag nicht mehr auf einer bestimmten Website war, heisst das nicht, dass ich seitdem nicht mitbekommen habe, was auf der Welt passiert ist. Einerseits lässt sich das mit dem frei verstellbaren Zeitregler abfangen, andererseits gilt aber auch: Gerade weil Echtzeit-Information überall verfügbar ist, kommen Leute ganz bewusst zu bestimmten Medienmarken, um Orientierung und Gewichtung zu finden. Mit zeitlicher Personalisierung könnte diesem Bedürfnis stärker Rechnung getragen werden.

Caveat 3: Wie findet denn die Gewichtung statt, wenn die zu berücksichtigende Zeitspanne irgendwo zwischen 0 Minuten und, sagen wir mal, einem Jahr liegen kann. Dazu braucht jeder Artikel einen Wichtigkeitswert. Dieser kann aus ganz verschiedenen Indikatoren errechnet werden (Wie oft wurde der Artikel verlinkt? Wie lange war er auf der Frontseite? Wie viele Autoren haben daran mitgearbeitet? Wie lange ist der Artikel?) wobei idealerweise auch eine redaktionelle, also menschliche Komponente einfliesst. Nun kann für jede beliebige Zeitspanne eine Liste von Artikeln, sortiert nach Wichtigkeit, ausgeliefert werden.

Was bei Zeitungen die Ausgaben sind, sind bei digitalen Angebote die einzelnen Besuche. Die Zeitungsausgaben kommen für alle Leser im selben Abstand, darum ist es legitim, dass überall dasselbe drin steht. Die Besuche der digitalen Angebote dagegen folgen ganz unterschiedlichen Mustern, darum wäre sinnvoll, unterschiedliches zu bieten. Damit ich immer sicher sein kann, dass ich das Wichtigste seit meinem letzten Besuch erfahre.

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