In der Halfpipe steht Shaun White unter Druck wie noch selten, seit er in Turin vor acht Jahren den olympischen Thron bestiegen hat. Der US-Ikone droht der Sturz vom obersten Podium
Wie stark eingeschränkt White im lädierten Schulter- und Knöchelbereich wirklich ist und ob der Rückzug vom Slopestyle nicht einfach nur ein Ablenkungsmanöver war, wird sich heute Abend weisen. «Für mich ist es keine Anzeichen von Schwäche, dass er sich vom Slopestyle zurückgezogen hat. Shaun konzentriert sich ganz einfach auf seine Chance, zum dritten Mal Gold holen zu können», relativierte Iouri Podladtchikov im Vorfeld des Spektakels die Spekulationen um die Verfassung des Doppel-Olympiasiegers.
Er selber macht aus seinen Plänen kein Geheimnis: «Ich will ihn schlagen. Ich fühle mich besser als vor vier Jahren in Vancouver. Und die Wettanbieter setzen am zweitmeisten auf mich.» In der Heimat seiner Eltern fühlt sich die Nummer 1 der Schweizer Freestyle-Szene wohl. Er kennt die Pipe besser als die US-Boys. Vor einem Jahr verschaffte sich der Zürcher erstmals ein genaues Bild der Verhältnisse auf dem Rosa-Chutor-Plateau, derweil White und Co. dem FIS-Test-Event fernblieben.
Weitere Herausforderer
Rider wie Podladtchikov, der die Welt der Snowboarder im vergangenen März mit einem neuartigen Trick namens «YOLO – you only live once» verblüffte, lockten White mehr denn je aus der einstigen Komfortzone. Selbst im eigenen Team ist White nicht mehr unantastbar. Greb Bretz besiegte ihn am 14. Dezember auf der «Dew Tour» – die Knöchelprobleme des Favoriten schmälerten den Coup des Aussenseiters nur marginal.
Und für eine Topklassierung kommen neben «I-Pod» und Bretz noch weitere Freestyler infrage: Danny Davis, ein in jeglicher Beziehung unberechenbarer Herausforderer, der sich vor vier Jahren mit einem selber verschuldeten Unfall selber gestoppt hatte, empfahl sich mit dem Triumph bei den X-Games. Eine Rolle spielen könnte auch das japanische Wunderkind Ayumu Hirano (15), um dessen Aufbau sich mittlerweile die Organisation von Jake Burton kümmert.
Auf dem Olympia-Radar taucht womöglich auch Christian Haller auf. Der langjährige Trainingspartner von Iouri Podladtchikov überzeugte in diesem Winter an fast allen Contests. Der Engadiner ist erfahren genug und besitzt die Qualität, an einem perfekten Tag unter die Top 6 der Welt vorzurücken. Bei den letzten Winterspielen trat der Bündner verletzt und chancenlos an.
Im Tableau der Frauen ist das US-Girl Kelly Clark gegenwärtig fast unschlagbar gut. Sie beansprucht die Favoritenrolle und könnte zwölf Jahre nach ihrem Triumph in Salt Lake City wieder an die Spitze des olympischen Rankings zurückkehren. Um die Dimension ihrer Dominanz zu erkennen, genügt ein Blick auf die Statistik der letzten vier X-Games-Veranstaltungen: Viermal flog Clark innerhalb der letzten vier Jahre höher und schöner als der restliche Teil der Weltelite.
Ursina Haller bewundert die Kunst der US-Leaderin: «Ihre Entwicklung ist faszinierend. Wenn sie keinen Fehler macht, ist ihr die Goldmedaille nicht zu nehmen. Sie beherrscht den Sport bei uns schon während mehreren Jahren im Stil von White im Männer-Contest.» Ein Niveau wie Clark wird die beste Schweizer Halfpipe-Spezialistin nie mehr erreichen. Aber mit einem Sprung unter die Top 12 rechnet sie durchaus: «Ich wäre jedenfalls sehr enttäuscht, nicht in den Final zu kommen.»