Nach dem Hochhausbrand von London geht die Polizei von fast doppelt so vielen Toten aus wie bisher angegeben. Vermutlich seien 58 Menschen bei dem Unglück am Mittwoch gestorben, sagte Stuart Cundy von Scotland Yard am Samstag.
Die bestätigte Opferzahl liege zwar weiterhin bei 30 Toten. Nach jüngsten Erkenntnissen würden aber insgesamt 58 Menschen seit der Brandnacht vermisst, sagte Cundy. «Leider muss ich davon ausgehen, dass sie tot sind.» Diese Zahl könne sich noch erhöhen. Es sei aber auch möglich, dass einige der Vermissten in Sicherheit seien, sich aber noch nicht bei den Behörden gemeldet hätten.
Das Feuer im Grenfell Tower im Westen Londons war in der Nacht zu Mittwoch ausgebrochen und hatte sich über die Fassade rasend schnell ausgebreitet. Viele Bewohner wurden im Schlaf überrascht. In dem Sozialbau lebten Berichten zufolge 400 bis 600 Bewohner.
19 Verletzte wurden am Samstag noch in Spitälern der britischen Hauptstadt behandelt. Zehn von ihnen befanden sich in kritischem Zustand, wie die Gesundheitsbehörde NHS mitteilte.
May beruft Sondersitzung ein
Nach heftiger Kritik an ihrer Reaktion auf die Brandkatastrophe in London rief die britische Premierministerin Theresa May Regierungsmitglieder zu einer Sondersitzung ein. Sie wolle dafür sorgen, dass «alles Mögliche getan wird, um die Betroffenen der Tragödie von Grenfell zu unterstützen», sagte ein Regierungssprecher am Samstag.
May empfing am Samstag zudem verletzte Bewohner des zerstörten Grenfell Tower, freiwillige Helfer und Vertreter der Gemeinde in ihrem Amtssitz in Downing Street. Ein Sprecher der Gruppe sagte, bei dem zweieinhalbstündigen Treffen seien der Regierungschefin die Forderungen der Betroffenen überbracht worden.
Kritiker hatten May vorgeworfen, nicht schnell genug auf das Unglück reagiert zu haben. Ausserdem hatte sie bei einem Besuch am Grenfell Tower am Donnerstag nicht mit den Opfern gesprochen.
Der Oppositionsführer und Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte derweil Betroffene getröstet. Am Freitag besuchte May Verletzte in einem Londoner Spital.
Wut der Bevölkerung
Die Wut auf Regierung und Behörden in Grossbritannien war auch am Wochenende noch gross. Vize-Premier Damian Green wies am Samstagmorgen Vorwürfe zurück, May habe nicht angemessen auf das Unglück reagiert.
«Sie ist von den Ereignissen genauso bestürzt wie wir alle», sagte Green der BBC. Die Regierung werde in den kommenden Tagen einen Vorsitzenden für die öffentliche Untersuchung des Brandes bestimmen.
Bei Protesten und Solidaritätskundgebungen für die Brandopfer hatten Demonstranten am Freitagabend unter anderem einen Rücktritt der Premierministerin gefordert. Zuvor war May als «Feigling» beschimpft worden, als sie aus einer Londoner Kirche in der Nähe des Brandorts kam.
Dort hatte sie den Opfern Hilfe in Millionenhöhe versprochen. Bei einem Fernsehinterview am Freitagabend hatte eine Journalistin May wiederholt gefragt, ob sie die Wut im Land nicht begriffen habe.
Unterdessen gab es am Samstag weitere Proteste gegen May. Vor dem Eingangstor zur Downing Street Nummer 10, wo die britische Regierungschefin ihr Büro hat, hielten einige Teilnehmer Schilder mit dem Slogan hoch: «Trotzt der Tory-Herrschaft». Sprechchöre riefen «Vorwärts, Jeremy Corbyn!», um ihre Unterstützung für den Chef der oppositionellen Labour-Partei kundzutun.