Die Westschweizer Gratiszeitung „20 minutes“ muss eine Rüge des Schweizer Presserates einstecken. Das Blatt habe in einem Bericht über homosexuelle Neigungen eines Lehrers und Mitglieds des Genfer Stadtparlaments zu einer unlauteren verdeckten Recherche gegriffen.
Laut dem Zeitungsbericht von Ende April 2011 hatte der Betroffene via einer Gay-Website Avancen gegenüber einem 15-jährigen Jugendlichen gemacht. Hinter dem angeblichen Jugendlichen steckte ein verdeckt recherchierender Mitarbeiter von „20 minutes“.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war der Lehrer aufgrund eines gegen ihn laufenden Administrativverfahrens suspendiert. „20 minutes“ illustrierte den Artikel mit einem Screenshot der Website, der einen Auszug auf dem geführten Chat und ein gepixeltes Foto des Lehrers und Politikers zeigte.
Der Presserat hält es gemäss seinem am Dienstag veröffentlichten Entscheid für unlauter im Sinne von Ziffer 4 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“, einen bereits suspendierten Lehrer via einer Gay-Website in solcher Weise aktiv zu ködern. Er erinnert daran, dass eine verdeckte Recherche nur ausnahmsweise, unter strengen Voraussetzungen zulässig ist.
Kein überwiegendes öffentliches Interesse
Erforderlich ist ein den Eingriff in die Privatsphäre rechtfertigendes, überwiegendes öffentliches Interesse an den Informationen, die sich zudem nicht auf andere Weise beschaffen lassen. Im konkreten Fall fehlt es nach Auffassung des Presserats nicht bloss an einem überwiegenden öffentlichen Interesse an der Recherche.
„20 minutes“ hätte insbesondere auch gestützt auf das Verhältnismässigkeitsprinzip auf die Veröffentlichung verzichten müssen, da der suspendierte Lehrer zum Zeitpunkt der Publikation seinen Rückzug aus der Politik bereits angekündigt hatte.
Darüber hinaus habe „20 minutes“ auch die Ziffern 3 (Unterschlagung wichtiger Informationen) und 7 (Respektierung der Privatsphäre) der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt. Der Autor des Berichts unterliess es, eine Passage aus dem Chat zu erwähnen, der die Vorwürfe relativiert hätte.