Rauf, runter und wieder rauf 2. August 2002

Ein geistig verwirrter Mann sagt mir, ich solle doch aufs Velofahren umstellen. Wie denn! Ich suche in diesen unwegigen Wäldern jetzt vor allem einmal Palagano.

Im Dschungel des Apennin. Proprietà privata. Völlig falsch, sagt eine Frau. Ich muss eine andere Richtung wählen. (Bild: Urs Buess)

Ein geistig verwirrter Mann sagt mir, ich solle doch aufs Velofahren umstellen. Wie denn! Ich suche in diesen unwegigen Wäldern jetzt vor allem einmal Palagano.

Der Wunsch, hübsch zu wohnen, muss den Menschen angeboren sein, und einige haben ganz exquisite Plätzchen gefunden. Auf einem Hügel oder Bergvorsprung zum Beispiel – so wie die Gründer von Montefiorino. Sonne am Morgen, und zwar schon von den ersten Strahlen, und Sonne bis zu den letzten Strahlen am Abend. Und eine unerhört weite Aussicht. Ganz zuvorderst und dominierend das Castello – ich sollte es fast den ganzen Tag im Auge haben.

Palagano, mein erstes Ziel, ist zwölf Kilometer entfernt – in der Luftlinie allerdings höchstens fünf. Ich hatte keine andere Wahl, als immer dieser Strasse entlang zu gehen. Wenn ich den Weg vor mir überschauen konnte, nahm ich Abkürzungen. Wanderte vor mich hin und schaute herum und hinan in diese weiten, breiten Täler, von harmlos wirkenden Bergen umgeben, die Hänge bewaldet oder gesprenkelt mit bräunlichen und weissen Häusern. Und doch: was so mächtig und herrisch über die bewaldeten Hügel hinausragte, diese kahlen Berge, wirkte bedrohlich.

Oft musste ich an Stuart Hoods Carlino denken, der hier durchgezogen ist, als Flüchtling im letzten Krieg von Tal zu Tal wanderte. Viele dieser Häuser mögen schon damals gestanden haben. Unklar für den damals Durchziehenden, ob hier Freunde oder Feinde wohnten, Verräter, Kollaborateure oder Partisanen-Freunde. Undurchsichtig und unheimlich muss es gewesen sein, und jetzt, da ich diese Topographie erlebe, wird mir klar, warum Carlino nicht schneller vorangekommen ist.

Mit dem Velo

Ein jüngerer, allerdings geistig leicht umnachteter Mann sieht mich auf sich zukommen. Er lehnt an einem dreirädrigen Ape-Vespa-Transporter  und sieht mich fassungslos an. Dann huscht eine Erleuchtung über sein Gesicht, und er gibt sie mir auf den Weg. «Mit dem Velo wärst du schneller.» Da hat er recht, besonders auf dieser Talseite, talabwärts.

Der Gedanke gräbt sich ein. Wenn ich weiterhin so langsam vorankomme, schaffe ich es bis Ende Monat nicht bis nach Sizilien. Eine lange, hohe Brücke über den Torrente Dragone. Und dann steigt die Strasse wieder so an, wie sie herunter geführt hat. Kurve an Kurve. Bergaufwärts fehlt der Überblick, um Abkürzungen zu nehmen.

 Vier Himmelsrichtungen

Mittagspause in einem schattigen Heuschober auf gutem Weg nach Poligano. Hier stechen sogar die Fliegen. Ich ruhe etwas aus, will nachher wieder zurückgehen, weil ich überzeugt bin, mich verlaufen zu haben. Wie ich später erfahren sollte, war ich allerdings auf dem richtigen Weg, habe mich wegen irreführender Wegweiser aber davon abbringen lassen. Nicht nur deswegen – die Hilfe der Einheimischen kann sehr verwirrlich sein. Fragt man innerhalb von zehn Minuten vier Einheimische nach dem Weg nach Palagano, so sagt der erste: «Aha, Palagano, da bist du genau auf dem richtigen Weg. Immer geradeaus.»

Aber mich dünkt, ich sei falsch. Ichbin verunsichert und frage zehn Minuten später einen Mann, der da im Wald herumirrt und vielleicht Pilze sucht, wo es denn nach Palagano gehe. Ach, sagt der, er fahre halt immer mit dem Auto. Aber ich sei gewiss in die falsche Richtung unterwegs. Er empfiehlt mir, streng nach rechts zu gehen. Also gut, leicht verunsichert zweige ich bei der nächsten Möglichkeit nach rechts ab. Da erreiche ich ein paar Häuser, ein Schild sticht mir in die Augen: Proprietà privata. Ich frage eine Frau, wo denn der Weg nach Palagano durchgehe. Völlig falsch, sagt sie – genau in die andere Richrung. Ich habe nun vier Himmelsrichtungen zur Wahl. Und der nächste, den ich fragte, lange Zeit später, der sagte mir, ich sei nun nur noch zwei Kilometer von Palagano entfernt.

Zuerst traf ich an einer Bushaltestelle liebenswürdige junge Leute. Sie gaben mir gute Ratschläge Zum Beispiel den: Nimm einfach den Bus. Aber, sagte einer, der nächste Bus fährt um zwanzig vor sieben. Morgen früh.

Dorfleben

Aber ich fand Palagano. Ich buchte ein Zimmer im Albergo, machte ein Nickerchen, machte wieder mal die Wäsche, sass vor die Bar. Ein Strassenarbeiter hatte sich eben hingesetzt mit einem Eis in der Hand. Ein zweiter Mann kam, trat in die Bar, kam raus, ebenfalls mit einem Eis. Man schleckte, schwieg, schwatzte. Es tuckerte einer mit seinem Fiat heran, tat sehr wichtig, ging in die Bar, kam wieder heraus, ohne Eis und foppte den Strassenarbeiter, der auf Staatskosten nichts anderes tue, als Eis schlecken. Diesen kümmerte das wenig, er winkte zwei Carabinieri zu, erhob sich umständlich, trat auf die Strasse und sprach in sein Funkgerät. Nichts geschah und er setzte sich wieder hin, liess den Fiat-Fahrer spotten.

Vis-à-vis zeigte ein Garagist einem Kunden die Vorzüge eines Suzuki mit geöffnetem Verdeck. Sie steckten den Kopf tief unter die Motorhaube, drückten am Vergaser und liessen den Motor aufheulen. Dann stiegen sie ein zu einer Testfahrt.

Zuerst Modena

Ein Fünfzigjähriger in dieser schrecklichen Armeehose begann von seinen Reiseabenteuern zu erzählen. Mit dem Toyota war er in Marokko und Mauretanien. Der Weg war: Modena, Barcelona, Almeira, Marokko. Dann Mauretanien, aber zuerst Modena. Zuerst musst du nach Modena. Und von Modena, wenn du mal da bist, geht es dann weiter. Nach Barcelona und Mauretanien. Aber erst musst du nach Modena. Dann wird es ganz einfach.

Ein Ape-Transporter kurvte heran, beladen mit Tischen. Oben drauf ein Mann, der Oberkörper frei, er hielt alles zusammen. Der Strassenarbeiter winkte, dieser zurück, aber das war unvorsichtig.  Die Tische wankten.

Im Hotel – dreiundzwanzig Zimmer – war ich der jüngste Gast. Eine Pension für Feriengäste aus Modena, Mailand, Brescia, Parma. Leute gegen die achtzig, die sich die grossen Ferien nicht leisten können und ans Meer nicht mehr wollen. Einfach ein bisschen Sommerfrische geniessen. Sehr neugierige Leute, sehr leicht zu verpflegen. Man tischte Pizza auf, Rauchen im Speisesaal verboten. Nachher durften sie noch eine Weile auf dem Platz sitzen, einige Damen und Herren zündeten sich eine Zigarette an. Dann trieb sie der kühle Abendwind ins Bett.

(Palagano, 2. August 2002)

« vorherige Etappe   nächste Etappe »

Nächster Artikel