Trotz Viertelfinal-Qualifikation ist Portugal bislang bei der EM nicht richtig in Fahrt gekommen. Renato Sanches könnte das ändern und heute gegen Polen seinen märchenhaften Aufstieg fortsetzen.
Der 18-jährige Renato Sanchez ist keiner, der es langsam angehen lässt. Wenn der bullige Mittelfeldspieler bei dieser EM aufs Feld kommt, bleibt das nicht unbemerkt. Er fordert den Ball, dribbelt und geht mit seinen Pässen Risiken ein. Das fällt auch deshalb auf, weil seine Teamkollegen bislang einen ökonomischen Spielstil pflegen. Der Achtelfinal gegen Kroatien war besonders für die portugiesischen Fans eine Qual, bis der eingewechselte Sanches für etwas Leben sorgte. Er stand auch am Ursprung des 1:0 in der 117. Minute.
Kein Wunder fordern nun Anhänger und Medien in der Heimat noch etwas vehementer die Beförderung des Teenagers in die Startformation. Bislang musste er sich mit drei Teileinsätzen begnügen. Dass Nationalcoach Fernando Santos das Talent massvoll einsetzt, hat seine Gründe. Die Dynamik und Kraft, die seinen jüngsten Spieler auszeichnen, kann auch überborden. Gegen Kroatien leistete er sich eine Tätlichkeit gegen Luka Modric, die eigentlich den Platzverweis hätte bedeuten müssen.
Er sei noch nicht reif genug für die Startformation, versicherte vor einigen Tagen Jorge Jesus, der vorletzte Saison bei Benfica Lissabon sein Trainer war. Sanches reagierte auf die Aussage stilvoll und bestätigte, dass es im portugiesischen Kader erfahrenere und bewährtere Kräfte gebe. So kraftvoll und zielstrebig sich der Mittelfeldspieler mit dem Ball am Fuss präsentiert, so zurückhaltend und überlegt tritt er nach Schlusspfiff auf. Im letzten April wurde er bei einem Meisterschaftsspiel bei Rio Ave mit Affenlauten provoziert. Er verabschiedete sich von jenen Anhängern, indem er einen Affen imitierte.
Verrückte acht Monate
Nur 24 Mal ist Sanches bislang in der portugiesischen Meisterschaft aufgelaufen. Ende Oktober griff sein Coach Rui Vitoria erstmals auf ihn zurück. Vitoria stand damals kurz vor der Entlassung. Benfica Lissabon lag in der Meisterschaft im 6. Rang mit acht Punkten Rückstand auf den Stadtrivalen Sporting, der von seinem Vorgänger Jesus trainiert wird. Mit Sanches holte Benfica pro Partie 2,79 Punkte im Schnitt. Am Ende der Saison resultierte der Meistertitel und der Sieg im Ligacup.
Am letzten Samstag nahm Sanches den nächsten Pokal in Empfang. Nach dem Spiel gegen Kroatien wurde er als «Man of the Match» ausgezeichnet – acht Monate nach seinem Debüt in der höchsten portugiesischen Liga, drei Monate nach der Premiere im A-Team Portugals und sechs Wochen nach der Vertragsunterzeichnung mit Bayern München. 35 Millionen Euro haben die Deutschen für das Juwel bezahlt, je nachdem wie gut es sich schleifen lässt, wird der Preis steigen, bis auf maximal 80 Millionen Euro.
Sanches hat einen rasanten Aufstieg hinter sich. Die Höhe des Bonus‘ beim Transfer, der von Faktoren wie Anzahl Einsätze, aber auch einer Nomination für die Wahl des Weltfussballers abhängig ist, zeigt, dass die Zeit der Bestätigung für den Teenager noch ansteht. Die «Süddeutsche Zeitung» nannte ihn vor der EM «eine teure Fantasie». Hätte Bayern München das Turnier in Frankreich abgewartet, wäre der Preis aber wohl noch höher ausgefallen. Auch Manchester United versuchte, den Aufsteiger der Saison an sich zu binden.
«Ein Phänomen»
«Es ist ein Traum, der wahr geworden ist», blickte Sanches auf die letzten Monate zurück. «Ich muss mich ab und zu zwicken, um sicher zu sein, dass das alles passiert ist.» Der Sohn einer kapverdischen Mutter und eines Vaters aus São Tomé und Principe galt schon als Kind als Ausnahmetalent. Immerhin 750 Euro und 25 Spieler übergab Benfica 2006 an den Lissaboner Vorortsklub Aguias Musgueira, um ihn in seine Nachwuchsabteilung zu integrieren.
Seither nähert sich Sanches in grossen Schritten der Weltspitze. Derart schnell, dass in Portugal Stimmen aufgekommen sind, die bezweifeln, dass er erst 18 Jahre alt ist. Carlo Ancelotti nannte den 1,76 m grossen Antreiber im «Corriere dello Sport» ein Phänomen. Der 57-jährige Italiener wird in den kommenden Monaten und Jahren als Trainer von Bayern München entscheidend beeinflussen, wohin der Weg von Renato Sanches führt.