Reykjavík – für Geisterseher und mutige Esser

Schön im klassischen Sinne ist Reykjavík nicht, aber reizvoll. Die charmante, bunte Wellblechhausoase im Norden ist bekannt für heisse Quellen, Whalewatching, Gammelhai und ausschweifende Partynächte. Und sie überrascht mit amerikanischem Lebensgefühl.

Sieht aus wie ein Café, hat aber die Karte einer Bierstube: das «Stofan».

Schön im klassischen Sinne ist Reykjavík nicht, aber reizvoll. Die charmante, bunte Wellblechhausoase im Norden ist bekannt für heisse Quellen, Whalewatching, Gammelhai und ausschweifende Partynächte. Und sie überrascht mit amerikanischem Lebensgefühl.

Schon kurz nach der Ankunft in der Jugendherberge merke ich: Nach Island reisen die meisten mit grossen Erwartungen. Die Wörter, die hier in Unterhaltungen mit anderen Touristen besonders häufig fallen, sind «Challenge», «Experience», «Passion» und «Change».

Ob es nun darum geht, ihre ganz eigene Grenzerfahrung zu machen, sich erden zu wollen, ihr Kleinkunstprojekt voranzutreiben oder ihre Mitte wieder besser zu spüren, fast alle sind auf persönlicher Mission hier – und versprechen sich viel aus der Mischung von isländischer Entschleunigung und ausgeflipptem Nachtleben.

Tatsächlich – am Wochenende lebt die Stadt. Entlang des Laugavegur reihen sich Bars, Restaurants und Läden aneinander. Hippe Isländer vermischen sich mit Hipster- und Trekkingtouristen, der grosse Kulturschock bleibt aber vorerst aus. Das Nachtleben ist ein bisschen wie hier in der Schweiz.

Im Schritttempo führt die Jugend ihre Autos aus, hört laut Musik und sammelt Kollegen für den Ausgang ein. Trotzdem schaffen es die Isländer, dabei wenig proletisch und sympathisch zu bleiben. Freitag und Samstag wird die wöchentliche Polizeisperrstunde von ein Uhr exzessiv weggefeiert.

Auf ausgetretenen Pfaden

Wer ein Weilchen sucht, der findet am Laugavegur neben den offensichtlichen Touristenfallen auch interessante Läden und heimelige Cafés. So zum Beispiel das «Bókin», einen chaotischen Bücher- und Plattenladen, der sich ein wenig wie ein Paralleluniversum anfühlt. Beim Stöbern in dem verwinkelten Chaos sucht nicht der Käufer das Buch aus, sondern das Buch ihn. 
Sehr zu empfehlen für eine Kaffeepause mit Eis oder Waffeln ist das «Eldur & Ís».

Hier gibt es hausgemachte Süssigkeiten und Eis mit einer fast überfordernd grossen Auswahl an Streuseln. Abends kommt das «Tíu Dropar», Café und Bar, besonders gut. Hin und wieder ein Spaziergang die Seitenstrassen hoch oder runter lohnt sich. Wer allerdings versucht, dem Tourismus gänzlich zu entkommen, wird scheitern. Widerstand ist zwecklos in einer Stadt, in der während der Hauptsaison die Anzahl Touristen die der Einwohner um das Dreifache übertrifft.

Auf einem Hügel hoch über der Stadt erhebt sich etwas phallisch anmutend die Hallgrímskirche. Sie eignet sich hervorragend als Orientierungshilfe, falls man einmal den Weg verliert in den Seitengässlein. Eine Besichtigung kann man sich allerdings schenken, die Kirche macht trotz 41 Jahren Bauzeit einen unfertigen Eindruck.

Am Alten Hafen findet wochenendlich in einer alten Lagerhalle ein Flohmarkt statt, in dem es von fermentiertem Hai über Brillen, Schmuck, Partisanen-Ausrüstungsartikeln bis zu Secondhand-Islandpullovern allerlei Kurioses zu vernünftigen Preisen gibt. Islandpullover aus zweiter Hand zu kaufen empfiehlt sich übrigens sehr, da sich der Neuwert schnell auf 150 Franken beläuft.

Hotdog und Hamburger scheinen Nationalgerichte zu sein

Gleich gegenüber des Flohmarkts steht der Verkaufswagen der «Bæjarins beztu pylsur». Wenn man grossen Persönlichkeiten wie Charlie Sheen, James Hetfield von Metallica oder Bill Clinton glauben mag, gibt es dort die besten Hot Dogs der Welt. Lecker sind sie jedenfalls. Freunde des Fast Food werden Reykjavík sowieso lieben: Die Amerikanisierung des Essens hat während der Zeit, als die Amerikaner in Island Truppen stationiert hatten, erfolgreich stattgefunden. Wüsste man es nicht besser, würde man annehmen, die Nationalgerichte der Isländer seien Hamburger und Hotdog.


Wer dennoch typisch isländisches Essen erleben möchte, hat am Alten Hafen beste Gelegenheit dazu. Dort wird Fisch fangfrisch in den vielen Restaurants verarbeitet. Ebenfalls am Hafen liegt das wohl romantischste Fish and Chips Restaurant der Welt, das «Volcano House». Es bietet ausgezeichneten fritierten Fisch in gediegener Atmosphäre zu sanften Klängen.

In der Nähe der Hallgrímskirche liegt das Café Loki. Es hat sich spezialisiert auf traditionell Isländisches, wie Schafskopfsuppe. Für kulinarisch Todesmutige bietet es Gammelhai an. «Nicht daran riechen, bloss kauen», warnt uns die Wirtin. Mein Begleiter befolgt den Rat, ich kann es nicht lassen und rümpfe sofort die Nase. Angewidert kaue ich auf meinem gummigen Würfel Hai herum. Mitleidig, aber doch mit Schadenfreude stellt mir die Wirtin einen Schnaps hin, aber er nützt nichts: Der Geschmack bleibt im Mund. Die Aktion fällt in die Kategorie «Muss man gemacht haben, aber nächstes Mal lieber ohne mich.»

Kulturprogramm für Wetterfeste

Sich auf angekündigtes Wetter zu verlassen ist mutig, aber nicht sinnvoll. Wo einem gerade noch der Wind den Nieselregen vertikal ins Gesicht geblasen hat, strahlt eine halbe Stunde später schon wieder die Sonne, nur damit es gleich wieder losstürmt. Ich bin auf einmal nicht mehr so sicher, ob die Antwort eines Isländers («Das ist der kommentierte Wetterbericht.») auf die Frage, warum denn bei Radio Bylgjan soviel zwischendrein geredet wird, als Witz gemeint war.

Wer sich trotzdem ins wechselhafte Wetter traut, kann sich auf eine der angebotenen Stadttouren machen. Auf der Haunted Tour werden Geistergeschichten mit viel Liebe zum Detail geboten, und man erhält eine Einführung zu den Orten der Stadt, wo heute noch Elfen wohnen sollen. Wer sich Kultur lieber im Trockenen zuführt, ist in einem der vielen Museen gut aufgehoben. Vom Siedler- bis zum Kunst- und Phallusmuseum – für alle ist etwas dabei, sofern man den Anblick eines eineinhalbmeter langen Pottwalglieds in Formaldehyd erträgt.

Stadtbild im Wandel

Beim Erkunden der Stadt merkt man: Hier passiert viel. Baustellen an allen Ecken, Häuser schiessen wie Pilze aus dem Boden. Überwiegend sind es Hotels und Gasthäuser. Man rüstet sich für die jährlich wachsende Anzahl Feriengäste. Easyjet hat mit seinem Direktflug Basel-Keflavík dem Islandtourismus aus der Schweiz und dem Dreiländereck Tür und Tor geöffnet. Dass die Einheimischen von dem Touristenstrom nicht erdrückt werden, liegt vor allem daran, dass sie keine Berührungsängste kennen.

Ein Lokal, in dem nur Fremde oder nur Reykjavíker verkehren, finde ich nicht. Viele kommen am Wochenende auch in die Bars der Jugendherbergen und mischen sich unter das reisende Volk. Nicht einmal sie nehmen sich die Mühe, den Invasoren auf Zeit auszuweichen. Im Gegenteil, man fühlt sich überall willkommen und integriert. Denn sie wissen, im Winter werden sie die Stadt sowieso wieder fast für sich allein haben.

  • Ausschwärmen: Auf einer Haunted Tour durch die Stadt, die über die nach wie vor dort lebenden Geister aufklärt, www.hauntedwalk.is
  • Einkehren: Im Volcano House, dem wohl romantischsten Fish and Chips Restaurant der Welt, Tryggvagata 11.
    Im Eldur og ís, wo es Süssigkeiten mit einer fast zu grossen Auswahl an Streuseln gibt, Skólavördustíg 2.
    Im Café Loki – lokale Küche für Hartgesottene, Lokastígur, www.loki.is
    Im Stofan Café, bei Plüsch und Tapete, in einem der ältesten Häuser der Stadt, Aðalstræt.
  • Einschenken: Süssigkeiten und Gammelhai runterspülen im «Tíu Dropar», Laugavegi 27.
    Oder aber im Kex Hostel, wo nicht nur Reisende etwas trinken, sondern auch Locals vorbeischauen, Skúlagata 28. www.kexhostel.is
  • Einkaufen: Im Bókin, einem Bücher- und Plattenbrocki wie einem Paralleluniversum. Hier findet nicht der Käufer das Buch, sondern das Buch ihn, Klapparstígur 25-27.
    Guter Flohmarkt in einer Lagerhalle zu vernüftigen Preisen: Kolaportið Flohmarkt, Tryggvagötu 19, Alter Hafen, nur Samstag und Sonntag, www.kolaportid.is

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