Mit 5 Medaillen fiel die Bilanz der Schweizer Leichtathleten an der EM in Amsterdam so gut aus wie nie. In Rio wird die Konkurrenz ungleich grösser sein. Top-8-Klassierungen wären ein grosser Erfolg.
Kariem Hussein besitzt in der 17-köpfigen Delegation von Swiss Athletics die grössten Chancen auf einen Finaleinzug. Der angehende Arzt fokussiert sich seit Jahren auf seinen Traum, an Olympischem Spielen im Endlauf zu stehen. Unter anderem zieht er wegen den Sommerspielen in Rio de Janeiro sein Studium in die Länge. Der 400-m-Hürdenläufer ist mit 48,87 Sekunden aktuell die Nummer 11 der Jahresweltbestenliste. Der Thurgauer hat diesen Sommer sein Potenzial noch nicht ausgeschöpft. Er kann mehr zeigen als in Amsterdam, wo er Bronze gewann, Gold aber nur um 12 Hundertstel verpasste.
In einem Alter, wo andere ans Aufhören denken, steht Nicole Büchler im Zenit. Die 32-jährige Stabhochspringern steigerte sich kontinuierlich und hätte an den Europameisterschaften um die Medaillen gekämpft, wenn sie nicht im letzten Moment durch eine leichte Zerrung ausser Gefecht gesetzt worden wäre.
Noch nie war die Frau aus Biel derart stark in ein Wettkampfjahr gestartet. 4,80 m reichten an den Hallen-Weltmeisterschaften in Portland (USA) zu einem starken 4. Rang, zwei Monate später lancierte Büchler den Sommer mit einem Schweizer Rekord (4,78 m) in Doha und überzeugte auch bei weiteren Diamond-League-Meetings mit Podestplätzen. Das Leistungsniveau ist zweifellos vorhanden, um in Rio in den Final der besten 12 vorzustossen. Allerdings muss Büchler für den Exploit wie in Portland ihren Ruf besiegen, an Grossanlässen Opfer ihres Nervenkostüms zu werden. In der Vergangenheit musste sie einige bittere Niederlagen einstecken, die schmerzvollste an den Heim-EM 2014 in Zürich, wo sie zum wiederholten Mal den Finaleinzug an einem Grossanlass verpasste.
Für die ehemalige Siebenkämpferin und 200-m-Läuferin Lea Sprunger hat sich der Wechsel auf die 400 m Hürden bereits ausbezahlt. Mit Bronze in Amsterdam weiss sie ihre Medaille an einem Grossanlass im Trockenen, zudem entriss sie unlängst an den Schweizer Meisterschaften in Genf Mujinga Kambundji den Schweizer Rekord über 200 m. Sprungers Chancen auf einen Finaleinzug in Rio über 400 m Hürden sind intakt, obwohl die Romande aktuell als Nummer 17 der Jahresweltbestenliste geführt wird. Allerdings sind acht US-Girls vor ihr klassiert, nur deren drei dürfen in Rio starten. Ihre persönliche Bestzeit von 54,92 Sekunden muss Sprunger noch weiter senken, um den Coup zu landen.
Tadesse Abraham hat der Schweiz in Amsterdam gleich zwei Goldmedaillen auf einen Streich beschert. Der gebürtige Eritreer, der seit 12 Jahren in der Schweiz lebt, lief überlegen zum Sieg im Halbmarathon. Sein Vorsprung sicherte Swiss Athletics zugleich Team-Gold. Abraham ist auch im Marathon für Top-Zeiten gut. Dies bewies er im März, als er in Seoul Viktor Röthlin in 2:06:40 Stunden den Schweizer Rekord entriss. Die Afrikaner werden für ihn in Rio allerdings nur schwer zu knacken sein. Abraham würde ein taktisches Rennen mehr behagen als eine reine Tempobolzerei. Röthlin hatte 2008 in Peking einen hervorragenden 6. Platz erreicht. Daran kann sich Abraham orientieren.
Mujinga Kambundji, EM-Dritte über 100 m, 800-m-Läuferin Selina Büchel oder die 4×100-m-Staffel der Frauen zeigten diesen Sommer tolle Leistungen. Gleichwohl erscheinen die Top 8 fast aussichtslos. Kambundjis Saisonbestleistung über 100 m in 11,14 gilt als Ausreisser nach oben. Kann sie diese Zeit erreichen, liegen die Halbfinals drin. Auch Büchel wird trotz des Fehlens der Russinnen einen schweren Stand haben. Die Staffel-Girls Ajla Del Ponte, Sarah Atcho, Ellen Sprunger und Salomé Kora verblüfften in Amsterdam mit einem Schweizer Rekord. Dies obwohl Kambundji und Lea Sprunger, die derzeit schnellsten Schweizerinnen, nicht zum Team gehörten. In Rio werden die acht Finalisten in drei Vorläufen bestimmt. Da wird kaum etwas zu machen sein.
Die Schweizer Equipe ergänzen Clélia Reuse-Rard (100 m Hürden), Fabienne Schlumpf (Steeple), Petra Fontanive (400 m Hürden), Angelica Moser (Stab), Maja Neuenschwander und Christian Kreienbühl (beide Marathon) sowie Marisa Lavanchy (Staffel). Die Hürdensprinterin Noemi Zbären, die vor einen Jahr an den Weltmeisterschaften in Peking in den Final vorgestossen ist, verpasst nach einem Kreuzbandriss die Olympiasaison.