Rückkehr in die Schweiz, 28. Juni 2002

In Héricourt verbringe ich meine letzte Nacht in Frankreich. Ich freue mich, heute Freund Lix in der Ajoie, in Bonfol, zu treffen.

Der stillgelegte Bahnhof von Delle. (Bild: Urs Buess)

In Héricourt verbringe ich meine letzte Nacht in Frankreich. Ich freue mich, heute Freund Lix in der Ajoie, in Bonfol, zu treffen.

Ein Mann hat mich gestern auf dem Abendbummel durch Héricourt angesprochen und gesagt, ich müsse mir unbedingt anschauen, wie man das Städtchen – etwas verloren zwischen Belfort und Montbéliard gelegen – schön mache: Die Strassen würden neu gepflastert, die Altstadt hübsch hergerichtet. Man sei es leid, dauernd im Schatten der beiden Nachbarstädte zu stehen.

Es ist wirklich eindrücklich, mit welcher Konsequenz alle Strassen aufgerissen werden. Bagger, Traxe stehen rum, die Kanalisation ist aufgerissen, neue Elektrokabel ziehen sich durch Gräben, die Leute turnen über schmale Stege, an Gittern vorbei, über Schotter und warten geduldig, bis ihr Städtchen ein neues Strassenkleid hat. Bistros haben ihre Tischchen mehr schräg als grad auf die unebenen Vorplätze gestellt, auffällig viele junge Leute sitzen, man könnte auch sagen: lungern rum. Keine Arbeit, sagt mir der Mann. Die Jungen wissen nicht, wie sie den Tag vertreiben sollen.

An manch einem Haus verblasst die Anschrift: «Spenglerei», «Metzgerei», «Druckerei», «Hotel». Es gibt nur noch ein einziges – das ;Aquarium». Die Zimmer liegen über der Lizaine, die bräunliches Wasser durchs Tal führt. Die Hotelküche ist von der deftigeren Art, die Mengen so, dass selbst einer, der fünfundzwanzig Kilogramm durch die Gegend schleppt, den Teller nicht leer essen mag.

Plötzlich spüre ich eine grosse Lust aufzubrechen, möglichst schnell aus diesen Ebenen wegzukommen, in die Ajoie zu eilen. Breche frühmorgens auf, strebe Montbéliard zu, an den Autofabriken vorbei, die Land und Leute hier sehr stark zu prägen scheinen, hin nach Etupes und von dort der Überlandstrasse entlang Richtung Delle. Es fehlt mir die Lust, nach kleinen Wegen zu suchen, immer voran, durch Dörfer in der Mittagshitze, kaum Menschen auf der Strasse, nur Autos, die vorbeirasen: Dampierre-les-Bois, Fêche-l´Eglise. Und ohne wirklich zu suchen, finde ich plötzlich Abkürzungen über Feldwege, sehe plötzlich Delle vor mir, hinter einer Waldkuppe.

Der Blick um Viertel nch drei

Es wird mir bewusst, dass ich nächstens einen Blick auf die Schweiz werfen werde. Ein ganz eigenartiges Gefühl regt sich plötzlich. Ich erinnere mich daran, dass es mehr als zwei Monate her ist, dass ich einen letzten Blick auf dieses Land geworfen habe; aus dem Flugzeug über dem Aargau sah ich den Habsburg-Tunnel unter den Wolken verschwinden. Mehr als zwei Monate – wandernd rechne ich die Tage aus, die seither vergangen sind, die Stunden – und als ich um Viertel nach drei tatsächlich aus einer Waldlichtung heraus ein Stück Schweiz sehe, habe ich errechnet, dass ich eintausendfünfhundertfünfzehn Stunden lang weg war.

Oberhalb Delle eine kleine Rast und ein grosser Schluck Wasser. Beabsichtige, möglichst schnell durch dieses Grenzstädtchen dort unten hindurchzugehen, das ich vom früheren Durchfahren als Ansammlung grauer Häuser in Erinnerung habe. Umso erstaunter stelle ich dann fest, wie malerisch und hübsch das Innenstädtchen ist, das ich noch gar nie gesehen habe. Trinke einen Kaffee und wechsle hundert Franken, kaufe dazu eine Wanderkarte der schweizerischen Landestopographie: Rodersdorf.

Stillgelegte Bahnhöfe üben einen ganz besonderen Reiz auf mich auf – ganz besonders, wenn sie so gross sind wie der in Delle. Marschiere an ihm vorbei, erreiche einen Pfad, der der Landesgrenze entlang führt, an Grenzsteinen vorbei, die auf der einen Seite regelmässig das französische Wappen, auf der anderen Seite abwechselnd das der Schweiz und das des Kantons Bern eingemeisselt haben. Mal in Frankreich, mal in der Schweiz und in Courcelles wieder ganz in Frankreich.

Mitden guten Wünschen des Zöllners

Der Grenzübergang ist verwaist, dreihundert Meter dahinter aber wartet eine Schweizer Zöllner-Patrouille. Sie kontrollieren heimkehrende Grenzgänger und wollen auch von mir wissen, wohin  des Wegs. Bonfol, sage ich. Und was ich im Rucksack mittrage: Ich zähle auf. Woher ich komme, fragt er. Aus Inverness, sage ich. Der Zöllner stutzt, überlegt, kennt kein Inverness in der Nähe. Bon, sagt er dann und schaut mich an: «Bonne Route.»

So richtig durch die Schweiz wandere ich ab Lugnez und Damphreux. Biege dort nach links und marschiere über die den freundlichen Hügel Richtung Bonfol. Eine Frau auf einem Traktor fährt an mir vorbei, beginnt auf einem riesigen Feld, Heu zu wenden. Eine Mohnblume leuchtet mir entgegen, ich pflücke sie und lege sie beim Kreuz nieder, das oben am Horizont steht.

Dann aber Bonfol. Im Croix halte ich inne, bestelle ein Bier, zahle es mit der Zehnernote, die ich seit Inverness im Portemonnaie trage. Alles scheint mir so bedeutungsvoll im Moment. Ich telefoniere Moni und wir machen ab, dass wir uns am Samstag irgendwo im Elsass treffen.

Freundestreffen

Dann kündige ich mich bei Lix an. Dieses Wochenende verbringt er in seinem Haus hier in Bonfol und hat gar nichts dagegen, dass ich ihn heimsuche. Ich ziehe mich um, wandere auf der Rue de Courtavon zu seinem Haus.

Er empfängt mich mit dem Fotoapparat. Wir sind beide sehr gerührt. Er entkorkt einen Champagner, wir plaudern, erzählen, alles völlig unaufgeregt. Es ist schön, so in die Nähe der Heimat zu kommen. Wir plaudern, bis es kühl wird, bis ich ins Bett gehe – in seinem Gästezimmer, wo ich nun seit bald einem Jahr nicht mehr genächtigt habe.

(Bonfol, 28. Juni 2002)

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