Wer reist schon nach Carlisle? Eigentlich niemand. Man kommt auf der Reise von Durness nach Sizilien zufälligerweise daran vorbei. Und geniesst gern einen Ruhetag.
Das Haus an der Warwick Road: mit Efeu bewachsen bis unters Dach, innen sind alle Zimmer mit Spannteppichen ausgelegt – was heisst schon Zimmer? Selbstverständlich das Gästezimmer, das Esszimmer, aber auch Treppen, Bad und WC. Die Kommode im Gang ist vollgestellt mit Krügen, Tee- und Kaffeekannen, geblümten und anderen, und eine Kanne ist ein lachender Katzenkopf. Viel Gold. Zündholzschachteln sind an die Wände gepimmt, teils unter Glas, gerahmt, gerahmt in schlichten Rahmen aus Buchenholz. Schauspielerportraits von Clark Gable bis Marylin Monroe.
Wir schlafen aus in diesem Haus an der Warwick Road. Vollgestopft wie ein Puppenstube ist es: mit Nippes, gehäkelten Decken und Vorhängen, mit – wie gesagt – Streichholzschachtelsammlungen, Hotelseifensammlungen, Marionettensammlungen, … Es ist so unwirklich und lädt zum Faulenzen ein, dass der Wunsch, während das Morgenlicht durch das Dickicht des Efeus an der Fassade dringt, dass der Wunsch unwiderstehlich wird, noch einen Tag und eine Nacht hier zu bleiben. Der Herr des Hauses serviert das Frühstück, wir fragen ihn nach einer Verlängerung des gebuchten Aufenthalts, und er sagt: «No problem, you can stay here.»
Er trägt kariertes Barchenthemd und braunen Manchesterhosen, taucht immer wieder in der Küchentüre auf, verschwindet, immer in Begleitung von zwei Siam-Katzen. Er hat Küchen-, hat Hausdienst, sagt er, seine Frau habe Geburtstag, wir werden sie gar nie sehen. Er bleibt immer länger stehen unter der Kürchentüre, wird ganz gesprächih. Er war mal Lehrer hier im Ort, siebzigtausend Einwohner hat Carlisle, erst war er Lehrer in der Primarschule, dann wurde er Lehrer für Landwirtschaft, was immer das heissen mag. Er wanderte nach Sambia aus, arbeitete auch dort als Lehrer, dann als Farmer, hat Kaffee angepflanzt und weiss jetzt alles über Kaffee.
Seit es diese Bodum-Kocher gibt, kann man hier endlich anständig Kaffee trinken, sagt er. Das konnte bisher sonst niemand in England, sagt er. Die Italiener, ja, die verstehen etwas vom Kaffee und haben geglaubt, ihn den Engländern beibringen zu können – aber was haben sie gebracht? Kaffee nach englischem Geschmack! Costa-Restaurants. Und er, der in Sambia Kaffee gepflückt hat, zeigt uns seine Katzen, die eine hinkt. Sie gehörte seiner Tochter und die ist nach Johannesburg gezogen, die Bilder ihrer Kinder auf dem Kaminssims.
Die verletzte Katze hat sie hier gelassen. Ein Bein ist lahm. Sie kann nur noch seitwärts gehen, aber sonst tut sie alles, was eine Katze tun kann.
Dann kommt er auf den Hadrianswall zu sprechen. Die Römer haben ihn quer über die Insel gezogen – von Carlisle bis hinüber nach Newcastle, auf der östlichen Seite der Insel. Allerdings: In der Nähe von Carlisle ist nichts mehr übriggeblieben vom Wall. Man muss drei Meilen gehen, bis man die ersten Spuren der Mauer trifft. Die Steine der ersten drei Meilen hat man gebraucht, um die Kirchen und Castles in Carlisle zu bauen.
Der Herr des Hauses ist nicht nur B&B-Gastgeber. Er ist auch Führer auf dem Cumbrian Way, den wir morgens gehen wollen. Der Cumbrian Way verläuft auf der Grenze zwischen England und Wales, sagt der Gastgeber in den Manchester-Hosen. Er sei nun nicht mehr gesperrt, sagt er. Letztes Jahr habe man ihn nicht gehen können. Wegen der Maul- und Klauenseuche im 2001. Jetzt aber seien neun Monate seit dem letzten Maul- und Klauenseuche-Fall verstrichen. «Jetzt ist alles wieder offen.» Die Seuche habe hier verheerend gewirkt, vier Millionen Tiere habe man töten müssen, und wir müssten nicht erschrecken, wenn wir kaum Tiere anträfen.
Im Costa-Kaffee schmeckt der Capuccino nicht schlecht. Man hat auf den Platz gestuhlt. Die Leute schleppen sich heran, den Samstag-Abend-Kater in den Knochen. Blättern in der Zeitung, die Sonne, der wolkenlose Himmel – das grelle Licht stört eher.
Sie faulenzen. Wir auch, schlendern durch die Gasse, geraten in ein Museum, sehnen uns nach der Puppenstube in der Warwick Road, suchen sie auf und dösen ein bisschen vor uns hin. Ein neuer Anlauf, zurück in die nun schon vertraute Stadt, die Läden offen, Handwerker am Renovieren, wer Sonntag hat, streckt die Beine, wer keinen hat, nimmt ihn hin. Unspektakulär das Städtchen, es braucht kein Spektakel. In kein Haus würde eine Normtüre, ein Katalogfenster passen. Hohe oder breite Fenster, unterteilt in zwanzig bis dreissig Scheiben, feingliedrig in diesen Backstein- und Quaderbauten. Kitschig überladen die Strassentafeln, üppig vergoldet die Anschriften an den Pubs, Restaurants, auffallend viele in Italienisch, selbst der Bingo-Saal, wo gegen sieben Uhr abends weisshaarige Damen ab fünfundfünfzig zielstrebig hinsteuern, der Eingang mit schwungvollen Goldmajuskeln mächtig markiert. Das Wochenende neigt sich dem Ende zu, das grosse Abenteuer für die Leute in Carlisle ist ausgeblieben, das Wetter war prächtig.
(Carlisle, 12. Mai 2002)