Der weitere Vormarsch der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) im Norden des Iraks hat eine Massenflucht ausgelöst. Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen rund 200’000 Menschen aus Angst vor der Schreckensherrschaft der Extremisten vor allem in das Sindschar-Gebirge im Westen der Metropole Mossul.
Die meisten Flüchtlinge waren Mitglieder der religiösen Minderheit der Jesiden. In den betroffenen Gebieten brach Chaos aus. «Die Bewaffneten bringen uns alle ohne Gnade um», sagte ein Bewohner der Nachrichtenagentur dpa.
Die Lage der Flüchtlinge war offenbar katastrophal. In Sindschar entfalte sich eine «humanitäre Tragödie», sagte der UNO-Sonderbeauftragte für den Irak, Nikolaj Mladenov. Die Flüchtlinge bräuchten dringend Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente. Das Sindschar-Gebirge sei von IS-Militanten eingeschlossen.
Die Extremisten hatten am Wochenende nach heftigen Kämpfen kurdische Peschmerga-Kämpfer aus grossen Gebieten nördlich und westlich von Mossul vertrieben. Die sunnitischen Fundamentalisten übernahmen die Herrschaft in den Städten Sindschar und Samar sowie in mehreren weiteren Orten.
Staudamm und Ölfelder erobert
Den grössten Staudamm des Iraks, die Mossul-Talsperre, brachten sie nach einem Ultimatum an die Pechmerga kampflos unter Kontrolle, wie Quellen der kurdischen Einheiten berichteten. Zudem beherrscht die Terrorgruppe jetzt zwei weitere Ölfelder.
In den nun von IS-Kämpfern eroberten Städten und Orten wohnen mehrheitlich Kurden. Die Sindschar-Region ist ein Hauptansiedlungsgebiet der Jesiden.
Die Gebiete gehören zwar nicht zur kurdischen Autonomieregion, standen aber zuletzt unter Kontrolle kurdischer Peschmerga-Kämpfer. Diese zogen sich nach heftigen Kämpfen mit den Extremisten aus der Region zurück. Bei den Zusammenstössen starben allein bis Samstag mindestens 77 Menschen.
Die Extremisten hätten etliche Menschen gefangen genommen, berichteten Einwohner. «Ich habe gesehen, wie die Bewaffneten die Menschen festgenommen haben», sagte ein 25 Jahre alter Jeside der dpa. «Ich mache mir Sorgen um sie und fürchte, dass sie liquidiert werden.»
Die Flüchtlinge suchten auch in den benachbarten kurdischen Autonomiegebieten Schutz. Die Terrorgruppe betrachtet die Jesiden als «Ungläubige». Irakische Medien meldeten, die sunnitischen Extremisten hätten zehn schiitische Kurden hingerichtet sowie schiitische und jesidische Schreine gesprengt.
Kurdische Gegenoffensive
Die kurdischen Peschmerga-Kämpfer schickten demnach Verstärkungen in das Gebiet, um Sindschar wieder zu befreien. Die Nachrichtenseite Shafaaq-News berichtete am Sonntag von neuen heftigen Kämpfen.
Die sunnitisch-fundamentalistischen Kämpfer hatten Anfang Juni die einst kosmopolitische und multireligiöse Metropole Mossul rund 400 Kilometer nördlich von Bagdad eingenommen. Die Steinzeit-Islamisten beherrschen mittlerweile weite Gebiete im Norden und Westen des Landes.
In den Regionen unter ihrer Kontrolle erlassen sie Gesetze nach einer sehr radikalen Interpretation des islamischen Rechts, der Scharia. Gegen Andersgläubige gehen sie mit roher Gewalt vor. Fast sämtliche Christen sind wegen der Verfolgung aus Mossul geflohen, nachdem IS-Extremisten ihnen den Tod angedroht hatten, sollten sie nicht zum Islam konvertieren.
Extremisten-Vormarsch auch in Syrien
Ende der Woche war die Terrorgruppe auch im benachbarten Syrien näher an die mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiete herangerückt. Dort hatten die Extremisten einen Militärstützpunkt in der Nähe der Stadt Hasaka eingenommen.
Fast zwei Monate nach Beginn des Vormarsches der Extremisten im Irak hat sich in Mossul zuletzt jedoch auch sunnitischer Widerstand gegen die Terrorgruppe formatiert. So tötete eine Gruppe mit dem Namen «Brigaden der Revolutionäre von Mossul» vor einigen Tagen mehrere IS-Kämpfer. Der Widerstand hatte sich gebildet, nachdem diese in den vergangenen Wochen mehrere bedeutende Moscheen und Grabmäler zerstört hatten.