Samuel, eine Bekanntschaft auf der Strasse

Unser Community-Mitglied Felix Schneider traf auf der Strasse einen verwirrten Mann. Er wollte ihm helfen, was sich als nicht so einfach herausstellte. Unser Community-Mitglied Felix Schneider traf auf der Strasse einen verwirrten Mann. Er wollte ihm helfen, was sich als nicht so einfach herausstellte. Mitten auf der Strasse steht ein Mann, der zwei volle Einkaufstüten trägt. […]

Auch in der westlichen Welt ist es immer noch leicht, durch das soziale Netz zu fallen. (Symbolbild)

Unser Community-Mitglied Felix Schneider traf auf der Strasse einen verwirrten Mann. Er wollte ihm helfen, was sich als nicht so einfach herausstellte.

Unser Community-Mitglied Felix Schneider traf auf der Strasse einen verwirrten Mann. Er wollte ihm helfen, was sich als nicht so einfach herausstellte.

Mitten auf der Strasse steht ein Mann, der zwei volle Einkaufstüten trägt. Als käme er grad aus der Migros und sei im Gehen plötzlich erstarrt. So steht er in einem Basler Wohnviertel mit wenig Verkehr, es ist Sommer, es ist Abend. G. und ich gehen an ihm vorbei und er grüsst uns.

Als wir eine Stunde später zurückkommen, steht er noch immer da. «Was ist mit Ihnen los?» fragt ihn G. In seinen Tüten sind Kleider und Schuhe sichtbar. Der Mann ist verwirrt. Er stottert. Er tritt auf der Stelle in schnellem Rhythmus von einem Fuss auf den anderen.

Er schaut uns schüchtern von unten herauf an, Daumen und Zeigefinger im Mund. Er kann nicht sagen, wo er die letzten Nächte verbracht hat. Für diese Nacht will er wohl auf der Parkbank vor meiner Wohnung bleiben.

Reflex der Nachbarn: die Polizei rufen

Jetzt geht im dritten Stock eines gegenüberliegenden Hauses ein Fenster auf und es erscheint eine Frau, die Angst hat. Heute sei sie in diese Wohnung eingezogen und jetzt stehe da dieser Mann, sie rufe jetzt die Polizei.

Im Speaker’s Corner publiziert die TagesWoche ausgewählte Texte und Bilder von Community-Mitgliedern. Vorschläge gerne an community@tageswoche.ch.

Wir bitten sie, genau das nicht zu tun, da unser Mann ängstlich abwehrend auf das Reizwort «Polizei» reagiert. Wir gehen zu dritt ein paar Schritte weiter, ziehen uns aus dem Blickfeld der Frau zurück.

G. und ich pendeln hin und her zwischen meiner Wohnung und der Bank, auf der sich der Mann häuslich eingerichtet hat. Wir versorgen ihn mit Essen und Trinken, das er nicht anrührt, aber er lädt uns zum Mitessen und Mittrinken ein.

Überhaupt hat er eine gewisse Grandezza, er ist nicht verwahrlost, trägt sauberes T-Shirt, propere Hosen, ist etwa vierzig Jahre alt, hat eine Postscheckkarte, spricht gepflegtes Mittelstands-Baseldeutsch. Wir machen Duzis. Er heisst Samuel und mehr wollen wir vorerst gar nicht wissen. Sein Kommentar dazu: «Megadiskret.»

Seine Sprache ist zerbrochen und zersplittert, aber nicht ohne Bewusstsein. Er realisiert, dass G. Berndeutsch spricht und beginnt ebenfalls Berndeutsch zu reden. Den Fragen, die ihn stören, weicht er fantasievoll aus.

Über sich selbst will er nicht viel erzählen

Als G. nach seinen Eltern fragt, fragt er zurück, was Eltern seien. Ältere Leute? Ja, solche kenne er. Wir fragen, wovon er lebe? Er antwortet mit einem Hinweis auf den Mond, der am Himmel über uns steht und tatsächlich wunderschön ist.

Ein Streifenwagen der Polizei taucht auf. Offenbar hat die Nachbarin doch telefoniert. G. sagt: «Jetzt müssen wir uns unterhalten.» Sofort legt Samuel nachdenklich die Hand an den Kopf, G. ist ausgebildete Schauspielerin – die beiden geben perfekt die Szene: Alte Bekannte treffen sich zufällig auf der Strasse.

Da die beiden ins Gespräch vertieft sind, spricht der Polizist mich an: Er habe den Bericht, dass hier ein barfüssiger Mann auf der Strasse stünde. Wir blicken uns an, wir blicken in die Runde. Ich sage: «Hab ich nicht gesehen.» Der Polizist bedankt sich und geht.

Da es uns nicht gelingt, eine Lösung für die Nacht zu finden, suche ich die Telefonnummer des psychiatrischen Notdienstes. Vergeblich. Eine Freundin weiss, dass man den nur über den allgemeinen ärztlichen Notdienst erreicht. Muss einem ja gesagt werden. Ich lasse mich mit dem psychiatrischen Notdienst verbinden.

Auch der psychiatrische Notdienst verweist auf die Polizei

Eine jüngere männliche Stimme meldet sich. Ich schildere den Fall. «Da müssen Sie als erstes die Polizei anrufen», tönt es schneidig aus dem Telefon. Falls der Mann irgendwo «abgängig» sei, würde ihn die Polizei zurückbringen oder unter Umständen auch ihn, den Notfall-Psychiater, einschalten. Ich äussere die Hoffnung, er könne vorgängig mit dem Mann reden.

«Das kann ich schon aus Sicherheitsgründen nicht», sagt der Psychiater, und bringt es fertig, im nächsten Satz den Ausdruck «Ruhe und Ordnung» zu platzieren. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber er sagte sinngemäss, nur so seien Ruhe und Ordnung gewahrt, und darum gehe es doch.

Ich verabschiede mich resigniert mit der ironischen Bemerkung: «Nun denn, so lassen wir eben Ruhe und Ordnung herrschen.» Der Psychiater stimmt ernsthaft zu, die Ironie bemerkt er nicht.

Er hat keine einzige Frage gestellt, er wollte nicht wissen, ob Samuel alt oder jung ist, aggressiv oder ängstlich, verwahrlost oder gepflegt.

Männerheim, YMCA oder Bänklein im Freien

Nun müssen wir nach eigenem Gutdünken handeln. G. organisiert zuerst eine Übernachtungsgelegenheit im Männerwohnheim an der Alemannengasse. Samuel will aber nicht in «d Männerschliiffi», sondern ins YMCA. Also rufen wir auch dort an. Es sind noch Plätze frei.

Aber nun will er ins Hotel des Missionshauses – da mache ich nicht mehr mit und erkläre: Männerheim, YMCA oder Bänklein im Freien. Samuel kann sich nicht entscheiden.

Wir lassen ein Taxi kommen, steigen ein, er kommt mit, wir deponieren ihn im YMCA, bezahlen Übernachtung, Frühstück, Taschengeld und gehen.

Was wohl aus Samuel geworden ist?

 

Nächster Artikel