Schalke droht in der deutschen Bundesliga der Kollaps. Sportliches Chaos statt organisierter Aufbruch. Die neu ausgerichteten Knappen stehen vor unruhigen Tagen. Am Sonntag gastiert Mönchengladbach.
In Gelsenkirchen zelebrieren sie Tradition. Das Steigerlied wird voller Inbrunst gesungen: «Glück auf, Glück auf!» Der Chor zur Würdigung der Kumpels soll mehr sein als Folklore. Der Verein erinnert sich der Malocher der längst geschlossenen Zechen und gibt Erdverbundenheit vor. Doch das transportierte Bild korrespondiert nicht mit dem Alltag. Von der besungenen Mentalität ist wenig zu spüren. Im Gegenteil: Kritiker werfen den Verlierern vor, sich nicht mit letzter Konsequenz aufzulehnen, gar abgehoben zu sein.
Nur eine Metapher stimmt: Die Schicht endet seit Wochen tief im (Tabellen-)Schacht. Schalke hat den schwächsten Saisonstart seiner Bundesligageschichte hinter sich. Der Frust weitet sich wöchentlich aus, von der Ratlosigkeit ist inzwischen fast jeder S04-Angestellte befallen – auch Breel Embolo, die für zig Millionen engagierte Frohnatur aus Basel. Vom im Sommer orchestrierten Aufbruch redet niemand mehr, die Enttäuschung überschattet alles. Erste Hoffnungsträger werden vom irritierten Umfeld zu Versagern gestempelt – trotz bisher makelloser Bilanz in der Europa League.
Trainer Markus Weinzierl wirkt nach 540 erfolglosen Meisterschaftsminuten blasser als der einst notorisch kriselnde Coach Jens Keller an gleicher Stelle. Eine Ablösesumme in Millionenhöhe hatten die Westfalen dem FC Augsburg für Weinzierl überwiesen. Dem Ex-Bayern-Amateur trauen Experten eine respektable Laufbahn zu – in Dortmund und München gratulierten verschiedene Exponenten zur Trainerwahl.
Der Ratschlag des Experten
Der Wind hat scharf gedreht im Ruhrpott. Weinzierl habe mit seinen taktischen Kehrtwenden den frühen Schiefstand massgeblich mitverursacht, ist zu lesen. «Er muss cool bleiben, Panikreaktionen wären fatal», empfiehlt Gianni Costa, der das Geschehen auf Schalke für die «Rheinische Post» intensiv beobachtet und kommentiert.
«Ich halte es zwar nach wie vor für möglich, dass der Klub eine gute Saison spielen wird. Aber bei einer weiteren Niederlage am Sonntag gegen Mönchengladbach wird es brenzlig.» Costa weiss aus langjähriger Erfahrung, wie schnell die Welt der impulsiven Knappen komplett aus den Fugen geraten kann.
Schalke ist zwar oft erfolglos, aber nie seelenlos. Viel Reden, viel Ausstrahlung, viel Verpackung. Pläne werden früher als anderswo umgeschrieben. Augsburg, Weinzierls letzte Arbeitgeber, verliert oder gewinnt nur regional, für Blau-Weiss hingegen interessiert sich die halbe Bundesrepublik. Schalke ist kaum weniger Hollywood als der FC Bayern.
Macher Tönnies schweigt
An der Spitze thront ein Fleischfabrikant, den der Boulevard nur Kotelett-Kaiser nennt: Clemens Tönnies. Ein reicher Macher mit der ausgeprägten Gabe zur Selbstinszenierung – an seinem 60. Geburtstag säuselte Helene Fischer eine Ballade für den passionierten Schlagersänger. Ein Abenteurer, der auch schon mal eineinhalb Monate im Mini-LKW durch den afrikanischen Busch tourt und am Lagerfeuer Lieder von Johnny Cash intoniert.
Der volksnahe Tönnies kann auch ein selbstherrlicher Verwaltungsratspräsident sein, der sich in der Vergangenheit je nach Lust und persönlicher Laune in operative Abläufe eingemischt hat. Seine Standleitung zur Bild-Zentrale gilt als verbürgt. Brühwarm verbreiteten seine medialen Vertrauten im vorletzten Frühling Interna – beispielsweise die Trennung von Roberto Di Matteo.
Seit einem Denkzettel der Stimmberechtigten – die Bestätigung im Amt erfolgte mit nur 56 Prozent – und einer drohenden Revolte in der Teppichetage hält sich der Klubchef öffentlich zurück. Die letzte vollmundige Ansage platzierte der S04-Entertainer Ende Juni am Tag seiner Wiederwahl: «Ich möchte mich ab sofort um diejenigen kümmern, die in der Tabelle vor uns stehen – und nicht um die dahinter.» Applaus, Applaus.
Die Zeit der lauen Nächte und flotten Sprüche ist einstweilen vorbei. September, 5. Spieltag, 1:2 in Hoffenheim, fünfte Pleite in Serie. Atemlos sind die Schalker immer wieder, nun droht dem Koloss eine gefährliche Atemnot. 15 Punkte Rückstand auf den Serienmeister Bayern, zehn Einheiten hinter der europäischen Zone. Die Zwischenbilanz ist ein einziges Desaster.
Vor einer Zäsur?
Horst Heldt muss sich den kritischen Fragen nicht mehr stellen. Der zumindest nicht ungenügende Manager der letzten fünf Jahre ist weg. In seinem Büro sitzt seit ein paar Monaten Christian Heidel. Mister Mainz sollte eine neue Gesamtstrategie verankern. Der «hochintelligente, selbstständig denkende und dazu noch bauernschlaue Typ» (Jürgen Klopp in einer Laudatio über Heidel) trat an, den Unterhaltungsbetrieb im sportlichen Segment zu festigen.
Während fast eines halben Jahres hat Heidel die Organisation durchleuchtet, erst nach dem zehnten Treffen mit Tönnies stimmte er einer Vereinbarung zu. Hat sich der fundierte Kenner mit der markanten Spürnase geirrt? Verschwindet er im riesigen Schlund des unberechenbaren Giganten? Oder bereinigt Heidel in der prekärsten Phase seit über einem Jahrzehnt kraft seiner Kompetenz nun strukturelle Mängel?
«Es ist Zeit für eine Zäsur. Hier herrscht eine Lethargie. Aber das werden wir nicht länger zulassen. Die, die dieses Phlegma haben, spielen dann nicht mehr», poltert Heidel nach dem fünften Bundesliga-Fehltritt in Folge. Der Tönnies-Wunschmann tritt vor und greift die Punktelosen frontal an: «Das hat mit Charakter und Mentalität zu tun.»
Nicht nur Heidel weiss, dass sich ein Klub, der im letzten Geschäftsjahr 264,5 Millionen Euro umsetzte und trotz Rekordzahlen noch immer Verbindlichkeiten von 146 Millionen zu bedienen hat, keinen Absturz ins Bodenlose leisten kann. «Der FC Schalke 04 ist gross und stark.» Die Worte von Finanzchef Peter Peters sind Verpflichtung und Warnung zugleich. Glück auf, Glück auf.